Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Traurigkeit, die Hinterbliebene empfinden? Traurigkeit hilft, den Tod eines uns nahestehenden Menschen zu bewältigen, indem sie dafür sorgt, dass der Betroffene die Aufmerksamkeit nach innen richtet. Wer traurig ist, nimmt eine Auszeit und zieht sich aus der Geschäftigkeit des Alltags zurück. Man hat Gelegenheit, in Ruhe nachzudenken und sich dadurch an die neue Situation anzupassen.
Insofern müssen wir Trauern als Kraft begreifen lernen. Wie können wir mit Trauer leben? Können wir überhaupt damit leben? Müssen wir uns wirklich bemühen, so schnell wie möglich mit dem Trauern fertig zu werden, damit wir dann endlich wieder leben können? Oder ist es nicht eher umgekehrt: Dass wir aus der Fähigkeit zu trauern viele Kräfte gewinnen, die unsere Leben bereichern. Denn mit der Trauer leben, statt gegen sie oder um sie herum, ist eine anstrengende, aber heilsame Erfahrung.
Trauerprozesse sind Phasen, die nicht nur mit heftigen Gefühlen verbunden sind. Sie regen uns auch dazu an, Freiräume und neue Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Im Lauf der Trauerjahre verlagert sich der Schwerpunkt des Trauerprozesses. Zunächst sind es die schweren und verlustbetonten Aspekte, später immer mehr das Anerkennen dessen, was ein Mensch mit seinem Leben und Sterben dem eigenen Leben gegeben hat. So wandelt sich auch das, was mitten im Leben von der Trauer sichtbar wird. Ist es zunächst viel Schmerz und Einsamkeit, so werden es im Lauf der Zeit Lebensweisheit, Geduld und die Fähigkeit, mit Erinnerungen umzugehen.
Unser Abschied, unsere letzten Ruhestätten sollen unsere Individualität widerspiegeln.
Wenn wir Wert darauf legen, unseren eigenen Tod zu sterben, den Abschied von unseren Nächsten so individuell zu gestalten, wie wir das eigene Leben leben wollen, dann ist es höchste Zeit, dass wir den Tod nicht mehr aus dem Leben ausklammern und jeden Gedanken daran von uns weisen. Vielmehr sollten wir das, was uns im Zusammenhang mit Sterben und Trauer beunruhigen könnte, endlich einmal zu Ende denken. Es ist hilfreich, sich auch emotional mit dem Tod vertraut zu machen, und zwar rechtzeitig, bevor der Ernstfall eintritt – ein Ernstfall, von dem wir mit absoluter Sicherheit wissen, dass er eines Tages eintreten wird. Eine solche innere Vorbereitung ist Fürsorge und Vorsorge im besten Sinne. Sie sagt uns, mit welchen Entscheidungen uns der Ernstfall konfrontieren wird. Eine Vorbereitung nimmt nicht schon vorweg, wie wir uns entscheiden werden, aber sie verhindert kopfloses Zustimmen und erlaubt stattdessen ein Innehalten. Wenn sich Hinterbliebene in den Zeiten der Trauer wirklich Zeit nehmen, dann werden sie erkennen, was sie brauchen, um den Verlust zu verkraften – und wie sie verhindern, dass aus einem Trauerfall eine Katastrophe wird.
Wer sich mit dem Tod vertraut gemacht hat, ist nicht länger hilflos im Umgang mit Trauernden. Es ist unvermeidbar, dass wir im Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft Menschen begegnen, die einen schweren Verlust erlitten haben und deshalb Verständnis und Beistand brauchen. Häufig ist ihnen schon damit geholfen, dass sie in ihrer Trauer wahrgenommen und nicht gemieden werden.
Wir gewinnen viel, wenn wir uns die Fähigkeit aneignen, mit Krisen und Verlusterfahrungen umzugehen, mit denen wir häufiger denn je konfrontiert sind. Sterben bedeutet für jeden etwas Einzigartiges, dem wir mit Ehrfurcht begegnen sollten, nicht mit Furcht. Der Einfluss, den wir nehmen können, ist der auf unsere Gedanken und inneren Bilder, auf unsere Erfahrungen. Es genügt nicht, sich theoretisch mit dem Thema Sterben auseinanderzusetzen. Das Begreifen des Todes muss eine sinnliche Erfahrung sein. Kein Zweifel: Bilder berühren – aber sie berühren uns persönlich nur für den Moment. Wir müssen dem Tod im Alltag wieder begegnen können, nicht nur virtuell und theoretisch.
Es geht darum, Sterben und Trauer anzunehmen und zurückzubringen in die Mitte der Gesellschaft. Wir müssen uns unserer Toten wieder annehmen, den Tod persönlich nehmen, Feierlichkeiten und Beerdigung selbst aktiv gestalten und, wo nötig, auch bürokratische Hürden in Frage stellen, um bei Gestaltung und Zeitplan mehr Freiraum zu schaffen für den Einzelnen. Trauer ist eine wertvolle Phase der Veränderung und muss als solche angenommen werden. In den folgenden Kapiteln möchte ich zeigen, was man vom Tod und von der Trauer für die Bewältigung von Lebenskrisen lernen kann und was wir gewinnen, wenn wir zu
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