Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
politischen Totenkulten des 19. und 20. Jahrhunderts war neben dem »unbekannten Soldaten« immer auch der Einzelnen gedacht worden, beispielsweise in den lokalen Gefallenenlisten auf Erinnerungstafeln in den Kirchen (oder den Vorräumen der Kirchen), auf Friedhöfen oder an Gedenkorten der Gemeinde wie dem Kriegerdenkmal vor dem Rathaus oder einem anderen zentralen Platz von Stadt und Dorf.
Das Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C. verknüpft die kollektive Erinnerung an die toten Soldaten besonders überzeugend mit dem Gedenken an die Menschen als Individuen, sind auf der 150 Meter langen schwarzen Granitwand doch die Namen aller amerikanischen Vietnamkriegstoten in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, sodass sich hier individualisierte Erinnerungspraktiken entwickeln konnten: Viele Angehörige und Freunde zeichneten den Namen »ihres« Opfers auf Papier nach. Steven Spielberg ließ sich vom Vietnam Veterans Memorial dazu inspirieren, mit Hilfe seiner Shoah Foundation Namen, Lebens- und Leidensgeschichten der in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordeten Juden soweit noch möglich digital zu archivieren – eine symbolische Rettung des Individuums vor der radikalsten Form der Entindividualisierung.
Spielbergs digitales Gedächtnis, der Versuch, den Millionen anonymen Opfern der Shoah ihre Individualität zurückzugeben, regte zahllose andere dazu an, das Netz als einen globalen, für höchst unterschiedliche Erinnerungsformen offenen Gedenkort zu gestalten. Inzwischen finden sich hier »Halls of Memory« und »Internet Cemeteries«, in denen Verstorbener individuell gedacht werden kann – durch Lebensläufe, Bilder, autobiografische Texte, Erinnerungszeugnisse von Verwandten und Freunden. Traueranzeigen im Netz nehmen ebenso zu wie diese virtuellen Gedenkorte.
In einem Diskussionspapier im März 2004 über die vielen neuen Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur hat das Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland denn auch jede pauschale Kritik der Virtualisierung des Totengedenkens vermieden und auf jüdische wie christliche Wurzeln digitalisierter Memoriae hingewiesen: »Das ewige Gedächtnis der Toten, bisher als Fähigkeit Gottes gesagt und als Glaubenstrost verkündet, wird gleichsam computeranimiert rekonstruiert … . Die Entwicklung läuft zu auf einen Abschied vom konkreten Grabmal bei gleichzeitiger ›Verewigung‹ der individuellen Biografien in medialer Form.« Gerade in diesen Individualisierungschancen liegt die große Faszination digitalisierten Totengedenkens. Jeder Einzelne kann hier insoweit ein postmortales Leben gewinnen, als er in zentralen (auto-)biografischen Zeugnissen digital präsent bleibt.
Der Tod als Weltverbesserer
Wie weit Lebensformen und Umgang mit Tod und Sterben in der modernen Welt in die Vergangenheit hineinreichen und zum Teil dort ihre Wurzeln haben, hat die Kulturwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer in ihrem Essay Das Leben als letzte Gelegenheit ausführlich aufgezeigt: Demnach sind es nicht Neugier und Vernunft, die den modernen Menschen hervorgebracht haben, sondern es ist die Angst vor dem Tod, die unser Lebensgefühl, unser Selbstverständnis bis heute prägt. Im 16. Jahrhundert betrat der Mensch als »Macher« die Bühne: »Erhobenen Hauptes, taten- und erkenntnisdurstig, durch und durch Akteur. Im Erwachen aus dem Dämmerzustand seiner vormodernen Existenz hatte ihm zu dämmern begonnen, wozu er fähig war, nämlich zur Umgestaltung der Welt nach seinen Plänen und nach seinem Willen.« Sein Auftreten war begleitet von Selbstbewusstsein und Zuversicht, seine ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung ist eine Kampfansage an den »heillosen Tod«, der in der Großen Pest die europäische Bevölkerung heimsuchte.
Nur in dem Maße, in dem der Einzelne seine Eigenart und seinen Eigensinn entfaltet, gewinnt er Lebenssinn. Seine Freiheit besteht darin, sich zu verwirklichen, und sein Risiko darin, an dieser Selbsterschaffung zu scheitern. Dem neuzeitlichen Individuum ist die »Sorge um sich« grundlegend aufgetragen, und der Einzigartigkeit des Individuums wird in der Folge ein absoluter Wert beigelegt. Das allein macht den Ernst, der die Gestalt umgibt, jedoch nicht aus. Der Preis für die Individualisierung ist eine durch nichts gemilderte Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit. Die Tatsache, dass sich das Individuum dadurch, dass es sich an die Stelle Gottes setzt, der Hoffnung auf das Jenseits beraubt, macht den
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