Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
und das Haus eines Sterbenden betreten.
In einer von Veränderung geprägten Welt wie der unseren bietet die traditionelle Einstellung zum Tode den Eindruck eines Walles von Trägheit und Kontinuität.
Unsere Alltagswirklichkeit hat diesen Wall inzwischen derart abgetragen, dass wir sogar Mühe haben, ihn uns auch nur vorzustellen und begreiflich zu machen. Die alte Einstellung, für die der Tod nah und vertraut und zugleich abgeschwächt und kaum fühlbar war, steht in schroffem Gegensatz zur unsrigen, für die er so angsteinflößend ist, dass wir ihn kaum beim Namen zu nennen wagen.
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Den Tod neu denken
Ungewissheiten aushalten
Es gibt drei Möglichkeiten, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen: Man kann ihn in der ersten Person als persönliches und unvorhersehbares Schicksal, das jeden trifft, annehmen. Darüber lassen sich allerdings die wenigsten öffentlich aus, obwohl viele häufig daran denken: »Leben heißt sterben lernen«, wie Montaigne sagt. Eine Auseinandersetzung mit dem Tod in der zweiten Person findet statt, wenn der Verlust eines geliebten Menschen einen Taumel aus Kummer und Schmerz auslöst, in den sich manchmal Gefühle von Schuld, von Selbstmitleid oder auch von Erleichterung mischen. Sich mit dem Tod in der dritten Person auseinanderzusetzen heißt, ihn als ein alltägliches Ereignis zu behandeln, das sich vielfältig deuten lässt und institutionell ganz unterschiedlich behandelt wird.
Schließlich kann man Betrachtungen darüber anstellen, in welcher Weise der Tod sich auf die Lebenden auswirkt. Denn der Tod ist zwar eine sehr persönliche Erfahrung, aber er ist auch ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis, vielleicht das einzige, das in allen Gesellschaften ritualisiert worden ist. Allgemeiner betrachtet aber bedeutet jeder Tod, dass die Karten unter den Lebenden neu gemischt werden: Eine soziale Identität verschwindet und muss neu besetzt, ihre Rollen und ihr Eigentum müssen neu verteilt werden, eine Beziehung ist getrennt worden, und die Zurückgebliebenen müssen sich ohne sie orientieren und das Leben neu erlernen.
Der Tod darf keine Leerstelle sein, die man auslässt. Weder persönlich noch gesellschaftlich. Er soll uns vielmehr zwingen, uns den Fragen zu stellen, die in seinem Gefolge auftauchen: Wie hätte ich mir die Sterbestunde gewünscht? Was hätte ich gern gesagt und getan? Welche Form der Bestattung hätte mir wirklich gutgetan? Wir müssen den Tod wieder begreifen lernen, auch im wörtlichen Sinne.
Sterben ist ein Weg, eine Reise, ein Übergang von einem Zustand, den wir als Lebende kennen, zu einem, von dem wir nichts mit Gewissheit sagen können. Wir müssen Entscheidungen treffen und Ungewissheiten aushalten. Tod und Sterben sind mit Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins verbunden, aber auch mit Gestaltung und Einwilligung. Nicht der Arzt kann entscheiden, wie wir sterben wollen; nicht der Bestatter oder der Pfarrer kann vorgeben, wie wir trauern dürfen. Es geht darum, die Handlungsspielräume wieder zurückzugewinnen, die wir haben – auch und gerade im Umgang mit Tod, Abschied und Trauer.
Trauer-Power: Die Kraft der Trauer
In Deutschland wird immer noch viel zu wenig über Tod und Trauer nachgedacht. Wir wollen nichts damit zu tun haben – und leiden zugleich an der Angst vor dem großen Unbekannten, das Sterben und Tod geworden sind. Doch die Trauer ist nicht unser Feind, sondern vielmehr eine Zuflucht, eine Art Schutz, und sie kann, kann man sie annimmt, zu einem positiven Lebensereignis werden. Durch Trauer – und nicht trotz ihrer! – kann es zu Wachstum kommen. Bei Tod und Trauer geht es um ein Grundthema des Menschseins, um den Umgang mit scheinbar unerträglichen Situationen. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf Krisen zu reagieren. Man kann klagen: »Warum passiert gerade mir das? Womit habe ich das verdient? Wie konnte das geschehen? Es ist so schrecklich, das überstehe ich nicht!« Man kann aber auch sagen: »Ich habe nicht erwartet, dass mir so etwas Schreckliches widerfährt. Aber nun ist es geschehen, es liegt nicht in meiner Macht, es ungeschehen zu machen. Vor mir liegt eine äußerst schwierige und schmerzhafte Zeit – was kann ich tun, damit es mir gelingt, sie zu meistern?« Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit auf das Problem und auch auf seine Entstehung zu wenden – schließlich aber auch über die Frage nachzudenken, wie es konkret und praktisch gelöst werden könnte.
Was ist der Sinn der tiefen
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