Das letzte Relikt
Zeitgefühl verloren. Der CD -Player hatte zur nächsten CD gewechselt, Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 . In der zeitweiligen Stille hatte er mit behandschuhten Fingern vorsichtig ein Fragment der Schriftrolle zwischen zwei andere gelegt, und die enge, kunstvolle Handschrift schien zu seinem Entzücken ineinanderzufließen und einen Sinn zu ergeben. Doch als er den Kopf tiefer gebeugt hatte, um seine Arbeit zu begutachten, hatte er eine Stimme gehört, die etwas in sein Ohr flüsterte, so deutlich wie er das Ticken seiner Armbanduhr hörte. Die Worte waren nicht zu entziffern gewesen, als handele es sich um eine fremde Sprache, und doch war die Bedeutung irgendwie klar. Sie lautete
ja … mach weiter
.
Und es klang, als würde sich der Sprecher direkt über seine Schulter lehnen.
Er riss den Kopf zurück und wirbelte auf seinem Stuhl herum. Sein Nacken kribbelte, und sein Herz pochte heftig.
Aber da war niemand. Im Raum war keiner außer ihm selbst.
Dabei
hatte
er die Stimme gehört. Und er hatte einen Atemzug gespürt, einen warmen Lufthauch an seiner Wange.
Dann setzte leise das Klavierkonzert ein.
Er stand von seinem Stuhl auf, die Beine fühlten sich ein wenig schwach an. Die Vorhänge am Fenster, die doppelten Vorhänge, die Gertrude auf seine Bitte hin aufgehängt hatte, bewegten sich – kaum wahrnehmbar, aber sie bewegten sich. Mit zögernden Schritten ging er auf sie zu. Hielt sie fest. Zog sie auseinander.
Er spürte einen leichten Zug, ein kühler Windhauch drang durch die Ritzen im Türrahmen der Terrassentür. Aber die Türen waren geschlossen, und der Balkon war leer.
Er war allein im Zimmer.
Er kehrte zum Schreibtisch zurück und blickte auf seine Arbeit hinunter. Die Oberfläche des Tisches war zur Hälfte mit Bruchstücken und Teilen der Schriftrolle bedeckt, die er gewissenhaft ausgebessert und zusammengefügt hatte. Er hatte sie sogar schon ansatzweise übersetzt und festgestellt, dass es sich tatsächlich um das Buch Henoch handelte. Er hatte also recht gehabt, verdammt recht. Es war Henochs Bericht von seiner Reise gen Himmel, und von dem, was er dort erblickt hatte. Der Text handelte von Engeln, die hell um den Thron Gottes herum erstrahlten, und von anderen, den gefallenen, die in Ungnade gefallen waren. Der Text handelte von einem kommenden Krieg. Von einer Seuche, die auf Erden wüten würde. Es war ein Traum, es war eine Prophezeiung … und sie gehörte ihm. Niemand anders hatte sie gesehen, niemand hatte sie gelesen, seit Tausenden von Jahren. Manchmal fühlte sich das Gewicht dieser Entdeckung wie ein Hammer im Inneren seines Kopfes an, der drohte, seinen Schädel zu zertrümmern.
Und vielleicht war genau das heute Nacht geschehen, dachte er. Vielleicht hatte sich ein klitzekleiner Spalt in seinem Schädel aufgetan, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und das Geräusch dieser Stimme entweichen lassen. Vielleicht war die Stimme gar nicht von außen gekommen; womöglich war sie aus dem Inneren seines eigenen Kopfes gekommen. Der zweigeteilte Geist war wieder bei der Arbeit.
Ein Löschzug der Feuerwehr raste mit heulenden Sirenen über die First Avenue, mehrere Taxis im Kielwasser. Eine Limousine hielt am Bordstein an, und ein Mädchen im glitzernden Partykleid, das seine Schuhe in den Händen hielt, stieg aus. Ein paar Tauben kreuzten im perfekten Gänsemarsch seinen Weg. Wie die Beatles auf dem Cover von
Abbey Road
, dachte er.
Der Himmel war dunkelblau, aber die Sonne ging auf.
Ezra ging weiter. Wenn er an einer Straßenecke anhalten musste, um auf Grün zu warten, lief er auf der Stelle weiter. Er brauchte dieses Gefühl von Bewegung, das Gefühl, Energie zu verbrauchen. Er musste seine Schritte auf dem Gehweg hören, die Autos, die vorbeirauschten – irgendetwas, solange es nicht die Stimme in seinem Ohr war.
Ein Mann in einem Blumenladen spritzte den Bürgersteig ab, hielt aber inne, um Ezra vorbeizulassen.
Vor einem japanischen Restaurant, das Ezra gelegentlich besucht hatte, stand ein hölzerner Bottich mit frischem Fisch. Als er vorbeiging, schien ein großer Fisch mit glitzernden silbernen Schuppen ihn mit totem Blick zu fixieren.
Er hastete weiter. Mit jeder Minute nahm der Verkehr zu. Die Sonne war endgültig aufgegangen. Der Besitzer eines koreanischen Lebensmittelladens rollte das schwere Metallgitter hoch, das seine Tür und sein Schaufenster bedeckte.
Ezra ging weiter. Je länger er unterwegs war, desto besser fühlte er sich. Die Stimme in seinem
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