Schuldlos ohne Schuld
1
»Sie haben was gegen mich.«
Der Mann gegenüber senkt die Zeitung und lächelt Martin durch die Brille auf jene spöttische Weise an, die gutmütig wirken soll, aber weder seine Abneigung noch das Gefühl der Überlegenheit verbergen kann.
»Überhaupt nicht«, antwortet er mit leisem Lachen. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist nur so«, fährt er fort, »dass ich hierher gekommen bin, um die Zeitung zu lesen, nicht um mich zu unterhalten.«
Eine halbe Wahrheit. Wie alles, was weder wahr noch erlogen ist, kann man sie nicht widerlegen. Für Martin ist die Botschaft einfach und klar: Halt’s Maul! Ich will nichts mit dir zu tun haben. Das ist es, was sein gegenüber denkt.
Da bleibt nichts anderes als zu schweigen. Der Fluch ist ihm in die Wiege gelegt, und er ist wieder zum Schweigen verurteilt. Sobald er den Mund aufmacht, bekommen die anderen einen Kinnladenkrampf oder wenden sich ab.
Der Mann gegenüber hat die Lektüre wieder aufgenommen; es scheint Martin aber, als sei der andere unangenehm berührt. Er schnüffelt durch die Nase, als störe ihn ein übler Geruch. Obwohl er versucht entspannt zu wirken, hat er die Schultern hochgezogen, als wappne er sich gegen jeden neuen Kontaktversuch.
Der Geruch kann nur aus einer Richtung kommen. Martin hat ihn selbst nie wahrgenommen. Trotzdem musste er ihn überall mit sich herumtragen. Das hat nichts mit Unsauberkeit zu tun. Er nimmt es genauer als die meisten, was die eigene Körperpflege betrifft. Manch einer von den anderen hier ist ein richtiges Ferkel. Wenn er etwas nicht ausstehen kann, dann ist das Dreck und Unsauberkeit. Der Geruch ist aber trotzdem vorhanden, und er weiß, dass er selbst ihn ausströmt. Bei allen anderen wirkt er wie ein Warnsignal und eine Barriere.
Jetzt erhebt er sich, der Kerl mit der Zeitung. Er winkt jemandem zu, der gerade durch die Tür hereingekommen ist, und er lächelt. Es ist ein richtig nettes Lächeln, ein freundliches Grinsen von der Art, wie Kumpels es austauschen, wenn sie ihre Freude über das Treffen zeigen wollen. Sie puffen sich in die Seite. Dann gehen sie zur Bar, fast Arm in Arm. Sie bestellen Bier und jeder einen Whisky. Dort beginnen sie ein bisschen zu streiten, so laut, dass alle sie hören können. Es ist ein freundschaftlicher Zank darüber, wer bezahlen wird. Der Mann mit der Zeitung gewinnt, und er sieht sehr zufrieden aus.
Natürlich entscheiden sie sich nicht, an Martins Tisch zu kommen. Obwohl noch Platz für mindestens fünf Personen ist.
Das Lokal ist voll von schwatzenden, trinkenden und scherzenden Menschen, doch Martin sitzt allein. Das ist nichts Besonderes. Er ist es gewohnt, allein zu sein, und er hat sich auch daran gewöhnt, dass die anderen nie mit ihm, oft aber über ihn sprechen. Ja, das tun sie. Er kann das an den Kopfbewegungen in seine Richtung sehen. Erst lacht der Mann mit der Zeitung und dann der andere. Sie lachen über Martin. Das weiß er auch.
Jetzt sprechen sie über etwas anderes.
Wie still es sein kann! Obwohl der Raum von Stimmen schwirrt und lautes Gelächter zwischen den Wänden widerhallt. Es ist so still, dass er wieder das Hämmern hören kann. In seinem Kopf. Die Geräusche von außen sind nicht stark genug, um zu ihm zu dringen. Es ist, als wäre er von der Umwelt abgeschirmt.
Haha!
Genau so ist es. Manchmal muss er über sich selbst lachen. Dann, wenn er Selbstverständlichkeiten sagt und entdeckt, wie dumm er sein kann. Oder welch ein Spaßvogel er eigentlich ist.
Nicht alle schätzen seine Späße. Er hat schlechte Erfahrungen damit. Auf der Arbeit muss er besonders vorsichtig sein. Daher macht er dort selten Scherze, jedenfalls nicht, wenn die anderen ihn hören können. Dagegen kommt es vor, dass er über die Scherze anderer lachen muss, auch wenn er der Ansicht ist, dass sie einfältiger sind als seine eigenen.
Martin ist allein bei der Arbeit, und fast nur, wenn sie ihn durch das Haustelefon anrufen, sprechen sie mit ihm. Er kümmert sich um die Post und den Kopierapparat, und manchmal bitten sie ihn, Überstunden zu machen. Dann können sie freundlich sein und sogar mit ihm lachen. Sie lachen leicht abgewendet am Eingang des Postbüros, als wären sie die ganze Zeit weit weg von ihm.
Manchmal redet er laut vor sich hin. Das ist nicht gut, und er hat versucht, das in den Griff zu bekommen. Man darf nicht laut vor sich hin reden. Nur wenn man allein ist und kein anderer zuhört. Idioten reden laut vor sich hin. Wenn es etwas gibt, was Martin sicher
Weitere Kostenlose Bücher