Das Geheimnis der Burgruine
1. Tödliches Abenteuer
Während der nächsten Minuten würde Tim eine ungeheuerliche Entdeckung machen. Aber noch war er anderweitig beschäftigt: Er spielte nämlich herum mit dem entzückenden Schlüsselanhänger, den Gaby ihm geschenkt hatte, einer kleinen silbernen Weltkugel mit winzigen Karabinerhaken zum Anhängen der Türöffner.
Tim sockte an diesem schulfreien Samstag über den Pausenhof zu einem der Internats-Nebengebäude. Seit fast 150 Jahren befand sich dort die Bibliothek, ein weitläufiger, dunkler Raum mit holzgetäfelten Wänden.
Böse Zungen behaupteten, dass sich dort seit Anbeginn nichts verändert habe: dieselbe Holztäfelung der Wände, dieselben Regale, dieselben Schreibsekretäre, Schränke, Lesetische und Bänke.
Das traf zu und war letztendlich schön, nämlich antiquarische Gediegenheit. Hinsichtlich der wissenschaftlichen und literarischen Bücher war man allerdings immer auf allerneuestem Stand.
Tim warf die kleine Weltkugel von einer Hand in die andere und dachte an seine Freundin - mit einem warmen Gefühl links oben in der Brust.
Es war früher Herbst, die Luft mild, das Blätterkleid der Laubbäume sattbunt, in Rot, Gelb, Gold und Braun.
Tim wollte sich schlaumachen über Tintenfische und Kraken: Infos, die er für eine Facharbeit brauchte. In der Bibliothek würde er bestimmt entsprechende Veröffentlichungen finden.
Am Eingang kam ihm Leo Strutthof entgegen, ein Schüler der 12. Klasse. Tims Intimfeind.
Leo war ein vom Ehrgeiz zerfressener Typ, der nur erste Plätze für sich beanspruchte. Er hatte - obwohl älter, gröÃer und schwerer - Tim viermal auf der Judo-Matte herausgefordert und sich bis zur totalen Lächerlichkeit blamiert. Beim letzten Kampf hatte Tim ihn derart in den Würgegriff genommen, dass Leo blau anlief - im Ton einer überreifen Pflaume - und noch am folgenden Tag nur krächzend sprechen konnte.
Hinzu kam, dass jeder im Internat wusste: Leo war unsterblich in Gaby verliebt. Aber sie hegte nur Verachtung für den groÃspurigen Angeber.
Leo war sehr groÃ, grellblond, mit Bürstenschnitt, und lief breitbeinig, als hätte er nicht festen Boden unter den FüÃen, sondern die Planken einer schlingernden Jacht. Sein üblicher Gesichtsausdruck war gesteigerte Hochnäsigkeit.
»Willst du endlich das Alphabet lernen? Oder weshalb gehst du in den Leseraum?«, fragte er aus dem Mundwinkel.
Tim schob sich ohne Erwiderung an ihm vorbei, fuhr aber den linken Ellbogen aus, was zu einer für Leo schmerzhaften Berührung am Oberarm führte.
»He!«, brüllte er und taumelte zur Seite.
Aber Tim schloss bereits die Tür der Bibliothek hinter sich.
Niemand war hier. Stille. Der etwas muffige Duft tausender Bücher, der geistigen Schatztruhen der Menschheit. Viele waren uralt, voller Würde und erhaben über alle idiotischen Rechtschreibreformen. Zu den Gerüchen hier kam auch der von altem Holz. Es roch wärmer als Kirchenbänke und hatte schon Generationen von Holzwürmern ernährt.
Tim trat unwillkürlich leise auf, als er in den Hintergrund zur richtigen Abteilung ging. Respekt war gefordert an dieser Stätte des Geistes.
Dennoch spielte der TKKG-Häuptling, den man früher Tarzan genannt hat, weiterhin, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit der kleinen Weltkugel.
Dabei passierte das Missgeschick.
Die kleine Kugel flog Tim aus der Hand, prallte auf die Dielen, rollte unter einen schulterhohen Schrank, stieà - klack! - gegen die holzgetäfelte Wand dahinter und blieb dort in staubiger Dunkelheit liegen.
Hm!
Tim kniete. Unter dem Schrank betrug die Bodenfreiheit nur etwa drei Zentimeter. Auch als Tim eine Wange auf den Boden presste, konnte er nichts ausmachen, geschweige denn daruntergreifen. Und ein Stock zum Stochern war auch nicht zur Hand.
Dann also mit Gewalt, dachte er. Hoffentlich ist der Schrank nicht verwachsen mit der Wand. Nach 150 Jahren Backe an Backe wäre es kein Wunder.
Er schob die Finger in den Spalt zwischen Schrank und Wand und begann vorsichtig, ihn vorzurücken. Er schien Zentner zu wiegen und knirschte auf den Dielen. Aber er gab nach und schlieÃlich hatte Tim einen halbmeterbreiten Winkel geöffnet.
Gabys Geschenk lag an der Scheuerleiste in einer Mulde aus Staub. Spinnweben hatten sich dicht verwoben wie eine neuartige Stoffart.
Hier, dachte Tim, ist seit anderthalb
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