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Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma Malley
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gut und rein.«
    Evie saß am Ende der Reihe; rechts von ihr saß niemand und sie streckte die Linke aus, fand die Hand ihres Vaters und hielt sie fest. Sie fühlte sich stark an, entschlossen, und Evie erinnerte sich, wie oft sie als Kind und als Jugendliche von dieser Hand gezüchtigt worden war. Diese Hand hatte sie gelehrt, die Regeln zu befolgen. Nun war sie endlich so weit, die Anforderungen zu erfüllen. Sie musste.
    »Und nun legt eure eigenen Hände ineinander, Brüder und Schwestern. Legt eure eigenen Hände ineinander und fühlt die Wärme des Blutes, das in euren Adern fließt und euch am Leben erhält. Genau so erhält der Glaube, der euch durchströmt, diese Stadt am Leben. Und genauso erhält uns das System, unser wunderbares System, das jeder von uns kennt, das uns leistungsfähig hält, in Frieden, jeder an seinem Platz.«
    Der Vater ließ ihre Hand los. Sie legte ihre Hände ineinander und bemühte sich angestrengt, das Blut zu fühlen und den Glauben, wie sie es Woche für Woche getan hatte, seit sie denken konnte. Aber alles, was sie sah, war Raffys trotziges, verzweifeltes Gesicht; alles, was sie fühlte, war die Leere, die sich in ihr auftat.
    Eine Leere des Bösen, sagte sie sich streng. Eine Leere, die sich füllen würde mit Güte, mit harter Arbeit und konzentrierter Hingabe an die Stadt.
    »Und nun, Brüder und Schwestern, wollen wir unsere Augen öffnen und uns und unsere Mitbürger anschauen. Unsere Freunde und Bekannten und auch jene, die wir nicht kennen. Und dabei wissen, dass wir alle zusammengehören. Dass das, was der Einzelne tut, Auswirkungen hat auf alle und dass die Mühsal des Einzelnen das Leben aller bereichert. Unser Glaube nährt nicht nur uns selbst, sondern unsere ganze Gemeinschaft.«
    Alle schlugen sofort die Augen auf. Evie blickte zu hastig umher, als dass sie Blickkontakt mit irgendjemandem hätte aufnehmen können. Sie konnte nicht nach hinten sehen – in Raffys Richtung, obwohl sie wusste, dass Lucas dort nach ihr Ausschau halten würde. Sie fühlte sich kurzatmig, so als würde sie fallen, obwohl sie wusste, dass das nicht der Fall war.
    »Und wir brauchen diesen Glauben«, fuhr der Bruder fort. »Den Glauben an unsere großartige Stadt. Den Glauben an die Neutaufe. Den Glauben an unsere Mitbürger. Wir alle brauchen euren Glauben, eure Arbeit und euren Einsatz. Denn ohne all das könnten wir diese Stadtmauern genauso gut verfallen lassen. Sie können uns zwar vor dem schützen, was dort draußen ist, aber sie können uns nicht vor uns selbst schützen, oder?«
    Evie drehte den Kopf wieder nach vorn. Ihr Herz klopfte und sie war schweißgebadet.
    »Nein, sie können uns nicht schützen«, rief sie mit den anderen im Chor. Ihre Stimme zitterte.
    »Aber unser Großer Anführer hat uns beschützt«, erklärte der Bruder. »Schon vor langer Zeit hat er erkannt, was die Menschheit lähmt. Er hat entdeckt, dass wir alle Sklaven einer Hirnregion sind, die wir nicht brauchen, einer anatomischen Verirrung, die die Menschen dazu bringt, Entsetzliches zu tun. Vor der Schreckenszeit glaubten die Menschen, sie seien zivilisiert. Sie hielten sich für klug und gewitzt und waren überzeugt, dass sich der Große Anführer irrte, weil sie doch alles hatten, was sie brauchten. Aber was hatten sie denn schon?«
    »Nichts«, riefen alle.
    »Nichts! Genau. Sie hatten Morde. Und Banden, die in den Straßen ihr Unwesen trieben, Menschen überfielen und ihnen ihren Besitz raubten. Frauen wurden vergewaltigt. Menschen wurden eingesperrt. Erwachsene wurden zu Tode gesteinigt. Aber auch das befriedigte diese Menschen noch nicht. Sie lasen Bücher über Mord und Vergewaltigung einfach so zum Zeitvertreib und sie schrieben Theaterstücke darüber.«
    Der Bruder ließ den Blick durch den Saal schweifen, und als er in Evies Richtung schaute, spürte sie, wie sich ihr der Magen umdrehte – bestimmt wusste er, dass auch sie schreckliche Dinge getan hatte. Aber sein Blick wanderte weiter über die Reihen. Sie hielt sich an der Banklehne vor ihr fest und sagte sich, dass das ihre zweite Chance war. Auch der Große Anführer hatte der Menschheit eine zweite Chance gegeben.
    Sie würde Raffy schließlich vergessen und er würde sie vergessen. Sie würden beide gerettet werden.
    »Sie schufen sich Religionen als Schutz und als moralische Führung, weil sie nicht fähig waren, sich selbst zu führen«, sagte der Bruder, und ihr Vater nickte eifrig, nicht ahnend, welche Qualen seine Tochter litt.

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