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1356

1356

Titel: 1356 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Cornwell
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    PROLOG
Carcassonne
    E r war spät angekommen.
    Inzwischen war es dunkel, und er hatte keine Laterne, aber die Brände in der Stadt loderten so grell, dass ihr Licht bis weit in die Kirche drang und sogar noch einen Schimmer auf die Steinplatten in der Krypta warf, wo der Mann mit einer eisernen Brechstange auf eine Steinplatte losging, in die ein Wappen eingemeißelt war. Es zeigte einen Pokal, um den ein Schnallengürtel lief, der die Inschrift
Calix Meus Inebrians
trug. Gemeißelte Sonnenstrahlen ließen es aussehen, als stiege Licht aus dem Pokal auf. Das eingemeißelte Bild und die Schrift waren im Laufe der Zeiten abgetreten worden und wirkten etwas verschwommen, und der Mann hatte sie kaum wahrgenommen, doch was er wahrnahm, waren die Schreie aus den Gassen rund um die kleine Kirche. Es war eine Nacht des Feuers und des Leidens, und die Schreie waren so laut, dass sie den Lärm überdeckten, mit dem er eine Spalte zwischen den Steinplatten vertiefte. Er rammte die Eisenstange abwärts, dann erstarrte er, weil durch die Kirche über ihm Gelächter und Schritte hallten. Er zog sich gerade noch rechtzeitig in einen Bogengang zurück, bevor zwei Männer in die Krypta herunterkamen. Sie hatten eine Fackel bei sich, die das langgestreckte Gewölbe ausleuchtete und ihnen zeigte, dass es hier keine leichte Beute zu holen gab. Der Altar der Krypta bestand aus einfachen Steinplatten, und sein einziger Schmuck war ein Holzkreuz, nicht einmal ein Kerzenhalter stand darauf. Einer der Männer sagte etwas in einer fremden Sprache, der andere lachte, und beide gingen wieder hinauf ins Kirchenschiff, dessen Wandmalereien und entweihte Altäre von den Bränden in den Straßen beleuchtet wurden.
    Der Mann mit der Eisenstange war in einen langen, schwarzen Kapuzenumhang gehüllt. Unter der schweren Kutte trug er ein weißes Gewand mit Schmutzstreifen, das in der Mitte von einer dreifach geknoteten Kordel zusammengehalten wurde. Er war ein Predigermönch, ein Dominikaner, doch das bedeutete in dieser Nacht keinen Schutz vor der Armee, die Carcassonne verwüstete. Er war groß und kräftig, und bevor er das Ordensgelübde abgelegt hatte, war er Waffenknecht gewesen. Er hatte eine Lanze zu schleudern gewusst, ein Schwert zu schwingen und mit der Axt zu töten. Sein Name hatte Sire Ferdinand de Rodez gelautet, doch nun war er einfach Fra Ferdinand. Einst hatte er Rüstung und Kettenhemd getragen, Turniere bestritten und in der Schlacht Menschen niedergemetzelt, doch nun war er seit fünfzehn Jahren Mönch und hatte jeden Tag um Vergebung für seine Sünden gebetet. Er war nun alt, beinahe schon sechzig Jahre, doch noch immer breit in den Schultern. Er war zu Fuß in diese Stadt gekommen. Der Regen hatte seine Reise behindert, Flüsse waren über die Ufer getreten und Furten unpassierbar geworden, und deshalb war er so spät angekommen. Er war spät angekommen, und er war müde. Er rammte die Brechstange unter die Steinplatte mit den Einmeißelungen und lehnte sich erneut darauf, während er zugleich fürchtete, dass sich das Eisen verbiegen könnte, bevor der Stein nachgab, doch dann stieg plötzlich ein hohles, kratzendes Geräusch auf, der Granit hob sich, rutschte ein Stückchen zur Seite und gab eine schmale Lücke zu dem Hohlraum darunter frei.
    Der Hohlraum war dunkel, denn die Flammen des Teufels, die in der Stadt wüteten, reichten nicht bis in das Grab, und so kniete sich der Mönch neben das dunkle Loch und tastete darin herum. Er fühlte Holz, also rammte er die Brechstange erneut in das Loch. Ein Hieb, zwei Hiebe, und das Holz splitterte. Er betete, dass kein Bleisarg in dem Holzsarg stand, und rammte die Brechstange ein letztes Mal abwärts, dann griff er in das Loch und zog gesplittertes Holz heraus.
    Es gab keinen Bleisarg. Seine Fingerspitzen glitten über Stoff, der unter seiner Berührung zerfiel. Dann spürte er Knochen, erkundete eine ausgetrocknete Augenhöhle, lockere Zähne und den Bogen einer Rippe. Er legte sich auf den Bauch, sodass er seinen Arm tiefer hinabstrecken konnte, tastete in der Schwärze des Grabes umher und entdeckte bald etwas Festes, das kein Knochen war. Aber es war nicht das, wonach er suchte; es hatte die falsche Form. Es war ein Kruzifix. Plötzlich wurden in der Kirche über ihm Stimmen laut. Ein Mann lachte, und eine Frau schluchzte. Der Mönch lag bewegungslos da, lauschend und betend. Verzweiflung überkam ihn bei dem Gedanken, dass der Gegenstand, den er

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