Das letzte Zeichen (German Edition)
anzuerkennen. Ohne Stadtmauer, ohne Neutaufe und ohne ständige Wachsamkeit könnten auch sie so werden wie die Bösen – voller Wut und Hass und Gewalt und nichts als Zerstörung und Verwüstung im Sinn. Genau wie die Menschen, die die Schreckenszeit entfesselt hatten. Genau wie die meisten Menschen, die bisher gelebt hatten.
Die Bösen kamen nicht oft in die Nähe der Stadt. Sie wussten, dass es keinen Sinn hatte, dass sie niemals hineingelangen konnten. Sie war zu gut bewacht, mit vier mächtigen gepanzerten Toren. Doch anders als bei früheren Befestigungen wurde die Stadt nicht mit zerstörerischen Waffen geschützt, etwa Pistolen, Revolvern und anderen Werkzeugen der Gewalt, wie sie einem in der Schule vorgeführt wurden. Der Schutz der Stadt bestand nur aus ihren massiven Mauern, die von den Bürgern errichtet und seither ständig verstärkt worden waren. Nachts, wenn Eindringlinge ihr Glück versuchten, patrouillierte ein Wachtrupp aus freiwilligen Polizisten an der Mauer. Und dann waren da noch die vier Torwächter, tapfere und gute Männer, die sicherstellten, dass niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis des Bruder s herein- oder hinauskam. Denn noch immer kamen Menschen in die Stadt. Manche reisten weit, um hier ein neues Leben anzufangen. Nur wenige wurden eingelassen. Einmal in der Woche öffnete sich das Südtor, und ein paar Glückliche kamen herein, empfingen die Neutaufe und damit die Chance auf eine Zukunft voller Hoffnung. Evie kannte keine Neubürger, doch sie sah sie manchmal am Dienstag, wenn sie in einer Reihe zum Krankenhaus gebracht wurden. Ihre Arbeitsstellen lagen in den Außenbezirken, meinte Evies Vater. Die Neubürger mussten sich erst bewähren, bevor sie sich in die Gesellschaft eingliedern durften.
Die Bösen kamen nicht zum Tor herein, sondern standen draußen, jammerten und klagten und bedrohten die Bürger der Stadt.
Sie kamen nur, weil sie das Gute hassten und die Stadt mit allen, die dort wohnten, zu vernichten trachteten. Auch wenn Ks zur Neukonditionierung fortgebracht wurden, kamen sie, um ihrem Ärger Luft zu machen. Evies Vater sagte, das Böse erkenne seinesgleichen stets und versuche, sich zu schützen. Deshalb kamen sie auch, wenn jemand auf K herabgestuft wurde – aus Wut darüber, dass die Person neukonditioniert wurde und das Böse in der Stadt nicht siegen konnte.
Die Bösen wussten immer genau, wann sie kommen mussten; sie konnten das Böse riechen, sagte Evies Vater. Wurde ein K verhängt, dann sprach sich das schnell herum; die meisten verriegelten dann die Tür und hielten sich die Ohren zu, damit sie die Schreie und Klagen der Bösen nicht mitanhören mussten, die sich in riesiger Zahl versammelten, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Anderntags folgte stets eine Versammlung zur Reinigung der Stadt und zum Trost für die schlimme Gewissheit, dass wieder jemand gefallen war. So bekam jeder wieder die nötige Stärke, um das Böse noch entschiedener zu bekämpfen.
Von neuen Ks erfuhr Evie immer vor den anderen Bewohnern der Stadt. Ihr Vater war Torwächter, einer der vier Männer, die die Schlüssel für die Tore im Norden, Süden, Osten und Westen der Stadt verwahrten. In den Nächten, in denen die Bösen kamen, hielt er immer Wache für den Fall, dass ein K flüchtete, bevor er neukonditioniert war, und nach dem Schlüssel suchte, um die Bösen einzulassen.
Was draußen vor der Stadtmauer lag, war schlimmer, als Evie es sich vorstellen konnte, wenn sie sich mitten in der Nacht mit schrecklichen Bildern quälte. Das wusste sie. Und sie wusste, dass ihr genau dieses Schicksal drohte, wenn sie dem Bösen nicht ein für alle Mal abschwor.
Wenn das System Raffy nicht vorher schon beobachtet hatte, dann würde es das jetzt tun. Er hatte einen Fehler im System entdeckt. War das System nun wütend? Oder dankbar? Hatte es vielleicht sogar Gefühle oder war es eher so wie Lucas? Evie wusste es nicht und es spielte auch keine Rolle. Für sie zählte nur, dass sie keine K werden wollte. Dabei hatte sie sich die ganze Zeit eingeredet, was mit ihr geschehen würde, kümmere sie nicht, oder zumindest nicht besonders. Ihre Gefühle für Raffy waren ihr wichtiger gewesen als alles andere, und die Freude, die sie in ihren kostbaren gemeinsamen Momenten erlebten, schien ihr die künftige Bestrafung wert zu sein. Doch jetzt, jetzt wusste sie, dass Raffy überwacht wurde, und mit einem Mal war sie nicht mehr so stark, wie sie gedacht hatte.
So kam es, dass sie sich in dieser
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