Das letzte Zeichen (German Edition)
sagen. Setzt euch, Brüder und Schwestern. Nehmt wieder Platz und hört mir zu.«
Alle setzten sich wieder. Im Saal war es mit einem Mal ganz still, und alle reckten die Köpfe vor, um ja kein Wort zu verpassen.
»Eine friedliche, gute Gesellschaft gründet sich auf Gerechtigkeit, auf klare Regeln, die jeder aus freiem Willen befolgt«, erklärte der Bruder und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Evie neigte den Kopf zur Seite und horchte angestrengt, so als könnten diese Worte sie heilen. »Wir sind die Erretteten. Wir sind die Erwählten. Und mit unseren reinen Gedanken werden wir auch weiterhin stark sein. Wir werden dem Bösen in unseren Herzen keinen Raum geben und auch nicht in unseren Köpfen. Das Böse möchte wachsen, aber wir werden ihm keine Luft zum Atmen lassen. Wir lassen uns vom System zeigen, wo wir schwach sind, und werden mit Entschlossenheit die Stärke zurückgewinnen.«
Die Predigt des Bruder s kam langsam zum Ende, und alle erhoben sich wieder, Musik erklang, und Hände schossen in die Höhe.
»Also feiert, Brüder und Schwestern. Feiert die Stadt. Feiert unsere Gemeinschaft. Feiert diesen Ruhetag und geht morgen wieder an die Arbeit, mit starkem Herzen und mit dem Wunsch, sofort in diese wunderbare Zukunft einzutreten.«
»Ja! Ja!«, rief die Menge. »Heil dem Großen Anführer!«
Evies Vater drehte sich zu ihr hin, seine Augen schimmerten feucht, und er legte den Arm um sie; dann legte er den anderen Arm um ihre Mutter, die ihrerseits hinter dem Rücken des Vaters Evies Schulter drückte. Diese Gefühlsregung kam völlig überraschend für Evie. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie drückte Hände und Arme, sie wollte ihren Eltern zeigen, wie sehr sie deren Unterweisung schätzte, wie sehr sie wollte, dass sie stolz auf sie waren.
Die Versammlung war zu Ende und Evie schlurfte hinter ihren Eltern aus dem Saal. Überall sah man rosige Wangen und nach oben gebogene Mundwinkel. Bekannte grüßten im Vorbeigehen mit freundlichem Gesicht.
Evie hielt sich dicht bei ihren Eltern und blickte starr nach vorn, denn sie wollte keinesfalls mit Raffy zusammentreffen oder ihm in die Augen sehen. Nahe beim Ausgang entdeckten ihre Eltern allerdings ein paar Bekannte – einen Arbeitskollegen ihres Vaters und dessen Frau –, und sie begaben sich an die Seite, um sich zu unterhalten. Evie wollte ihnen folgen, wurde aber von der Menge weitergeschoben, und ehe sie sichs versah, war sie ein paar Meter zur Tür hinaus und stand allein auf dem Weg. Sie wollte zu ihren Eltern zurück, aber noch immer kamen ihr zu viele Menschen entgegen. Sie winkte, aber die Eltern sahen sie nicht; sie plauderten und lachten mit den Bekannten.
Dann spürte Evie, dass jemand hinter ihr stand und sich ebenfalls nicht weiterbewegte. Das konnte nur Raffy sein. Ihr Gefühl drängte sie, ihm die Hand zu geben, ihn zu berühren und all ihre Vorsätze über den Haufen zu werfen.
Aber sie durfte diesem Instinkt nicht nachgeben. Das war ihre einzige Hoffnung.
»Du musst kommen. Ich kann nicht ohne dich leben.«
Er sprach leise und eindringlich und ihr Magen zog sich zusammen.
Sie schüttelte den Kopf, hielt verzweifelt Ausschau nach ihren Eltern. Sie brauchte jetzt deren Hilfe, sonst war es zu spät. Raffy presste sich an sie, und ihr war, als würde sie fallen. »Ich muss gehen«, brachte sie heraus. Sie konnte kaum atmen und erst recht nicht denken. »Tu das nie mehr. Such nie mehr nach mir. Es ist vorbei, Raffy. Es muss vorbei sein.«
»Nein«, sagte er so verzweifelt, dass sie sich zu ihm umdrehen und ihre Lippen auf seinen Mund pressen wollte wie so oft zuvor. Stattdessen grub sie ihre Fingernägel in ihre Handflächen.
»Raffy? Komm und kümmere dich um Mutter. Evie, was machst du hier allein?«
Evie blickte sich erschrocken um. Lucas kam auf sie zu. Seine Miene war unergründlich wie immer. Hatte er etwas mitbekommen? Evie schüttelte sich. Er konnte nichts gesehen haben.
»Ich … ich bin von meinen Eltern getrennt worden«, gelang es ihr zu antworten. »Ich suche gerade nach ihnen.«
»Da sind sie ja schon«, sagte Lucas und lächelte etwas gezwungen. »Deine Mutter jedenfalls.« Er wandte sich an Raffy und das Lächeln verflog. »Geh jetzt«, befahl er. Raffy machte sich davon.
»Evie, da bist du ja!«, rief ihre Mutter und tauchte in der Menge auf. »Wir sind da drüben bei Philip und Margorie. Ich habe ihnen gerade erzählt, wie gut es an deiner Arbeitsstelle läuft. Komm doch herüber.«
»Ja,
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