Das letzte Zeichen (German Edition)
Nacht schlafen legte und ihr nagendes Gewissen ignorierte, weil Raffy bestimmt auf sie wartete, denn sie hatte versprochen, sich beim Baum mit ihm zu treffen. Aber sie konnte es einfach nicht mehr tun. Nie mehr.
Es war Zeit, damit Schluss zu machen. Es war Zeit, so zu werden wie Lucas. Aufzuhören, sich zu sorgen und zu lieben.
Anzufangen, gut zu sein.
Der nächste Tag war ein Samstag, der Tag der Versammlung. Evie wachte auf und ging sofort ins Bad. Sie wusch sich und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Kleider hatte sie schon herausgelegt – wie am Samstag üblich, ein dickes Samtkleid und Schnürstiefel. Alle Mädchen trugen zur Versammlung die gleichen Sachen, nur in unterschiedlichen Farben und leicht unterschiedlich im Stil, aber letztlich das Gleiche. Da sie nun siebzehn war und schon fast eine Frau, hätte sie auch ein Damenkostüm tragen dürfen so wie ihre Mutter, aber Kostüme waren teuer, und da ihr das Kleid noch passte, war entschieden worden, die Anschaffung so lange aufzuschieben, bis sie unumgänglich war.
Schnell zog sie sich an, bürstete sich die Haare und rannte die Treppe hinunter, um das Stück Brot und den Apfel zu essen, die für sie bereitlagen.
»Hübsch siehst du aus«, meinte sie zu ihrer Mutter, als sie in die Küche kam und sich suchend umblickte.
Ihre Mutter drehte sich um und runzelte unsicher die Stirn. Für sein Aussehen bekam man in der Stadt selten Komplimente; allzu leicht konnte es so aussehen, als ob es einem nur um das Äußere ging und nicht um das, was unter der Oberfläche lag. »Warum sagst du das?«, fragte sie. »Ist irgendetwas?«
Evie schüttelte den Kopf. »Aber nein.« Sie konnte nicht erklären, dass sie heute gern reden wollte, und zwar über alles und nichts, damit sie nicht darüber nachdenken musste, was sie tun sollte – was sie tun musste –, um den Träumen ein Ende zu machen und zu verhindern, dass das Böse Besitz von ihr ergriff.
»Na dann … iss auf. Wir müssen gleich los.« Achselzuckend ging ihre Mutter aus der Küche.
Evie begutachtete ihr Frühstück, dann stand sie auf, packte es in eine Dose für später und ging wieder nach oben, um sich die Zähne zu putzen.
Punkt 8.45 Uhr verließ sie mit ihren Eltern das Haus und sie gingen hintereinander wie alle Familien aus ihrer Straße in Richtung Versammlungshaus.
Lächelnd überholten sie andere Gruppen und gingen umso schneller, je näher sie dem Ziel kamen. Evie wollte sich von der Spannung anstecken lassen und nur fröhliche Dinge denken.
Die Versammlung war der Höhepunkt der Woche; alle kamen zusammen. Als sie noch kleiner war, konnte Evie von Freitag auf Samstag kaum schlafen vor Aufregung. Alle sahen so wunderbar aus und die ganze Veranstaltung war so herzlich und liebevoll. Erst durch die Versammlung bekam alles einen Sinn, sie entschädigte für alle Mühen, und Evie fühlte sich wie das glücklichste Mädchen auf der ganzen weiten Welt.
Heute bemerkte sie auf dem Weg zum Versammlungshaus, dass sie die Zusammenkunft dringender brauchte denn je.
Das Versammlungshaus war das größte Gebäude der Stadt. Alle 5000 Einwohner der Stadt passten hinein, und wie immer war die Halle schon halb gefüllt, als sie ankamen. Mit Freuden nahm sie das warme Versammlungsgetränk entgegen, das an der Tür gereicht wurde, trank es und suchte sich einen Platz ganz am Ende einer der vorderen Sitzbänke, neben ihren Eltern. Sie beobachtete die ankommenden Familien, die Paare und die wenigen, die allein kamen. Einige ältere Bewohner wurden von einem Betreuer hereingeführt. Die As saßen ganz vorn, dann die Bs, hinten die Cs. Auch gemischte Gruppen saßen weiter hinten – Familien mit verschiedenen Rängen. Das war nicht üblich, aber es kam ab und zu vor, meistens wenn ein junger Mensch einen höheren Rang innehatte als seine Eltern. Eheleute sorgten dafür, dass sie ihrem Partner bei einem Rangwechsel möglichst bald folgten; sie waren verantwortlich füreinander und beeinflussten sich gegenseitig. Manchmal konnten die Kinder einen Rangwechsel vermeiden und manchmal liefen sie ihren eigenen Eltern den Rang ab. So wie Lucas. Evie sah genau zu, wie er (A) hereinkam, gefolgt von Raffy (C) und seiner Mutter (B). Keiner wusste so recht, wie man mit gemischten Familien umgehen sollte, also trennte man sie von den anderen. Ein Bereich an der Seite war den Ds vorbehalten, die mit gebeugtem Kopf zu ihrem Platz gingen und bis zur Eröffnung der Versammlung unruhig auf dem Sitz herumrutschten.
Musik erklang,
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