Das dunkle Fenster (German Edition)
I Das Refugium
Der Wadi Qadisha im Nordlibanon gilt seit alters her als Zufluchtsstätte für Verfolgte. Beginnend mit dem frühen Mittelalter versteckten sich Christen in den unzähligen Höhlen des Tals vor der Verfolgung durch Andersgläubige.
Das semitische Wort Qadisha bedeutet heilig – Wadi Qadisha heißt übersetzt ‚Heiliges Tal’.
Im Lauf der Jahrhunderte wurden zahlreiche Kapellen und Klöster an seinen Abhängen errichtet. Noch heute sind viele der heiligen Stätten von Mönchsgemeinschaften bewohnt.
1 Wadi Qadisha | Libanon
Schiefergrau senkte sich der Himmel über gedrängte Mauern. Ein Sturm trieb Schnee vor sich her und beugte die alten Zedern, die auf den Felsen über dem Kloster Fuß gefasst hatten.
Die Pigmente, mit groben Pinselstrichen aufgetragen, bildeten ein zerklüftetes Relief. Feine Graustufen dominierten das Bild, die Schatten schwarz, das Schneegestöber schmutzig weiß, der einzige Tupfer Farbe das Grün der Zedernkronen. Die Leinwand war auf einen Holzrahmen genagelt, mannshoch und einen Meter breit. Sonnenlicht fiel durch das gegenüberliegende Fenster und spaltete das Bild in zwei Hälften.
Einer der Besucher sagte etwas, das Bruder Gratien nicht verstand. Sie kamen aus Italien, hatte der Abt gesagt, Besucher von der Kunstakademie in Mailand. Gratien beherrschte ein paar Brocken Italienisch, deshalb hatte der Abt ihn auch als Führer bestimmt, aber er konnte den schnell gesprochenen Sätzen nicht folgen.
Unter den Besuchern war eine junge Frau, die sich als Azizah Abourjeili vorgestellt hatte und fließend Arabisch sprach. Sie hatte vorgeschlagen, ihm als Übersetzerin behilflich zu sein. Der alte Mönch war froh darüber, auch wenn ihre Art, ihn direkt anzusehen, ihm Unbehagen bereitete.
Azizah drehte sich zu ihm um. „Diese Bilder zeigen alle das Kloster, nicht wahr?“ Gratien nickte höflich. „Meine Freunde bewundern sie“, fuhr sie fort. „Wer ist der Maler?“
„Sein Name ist Nicola Martin“, sagte Gratien, „ein sehr großzügiger Mann. Er hat die Bilder unserem Orden geschenkt.“
„Nicolá Martin“, wiederholte Azizah. Sie legte den Kopf ein wenig schräg. „Ich habe den Namen noch nie gehört. Erzählen Sie mir etwas über ihn.“
Gratien lächelte verlegen. „Da gibt es nicht viel, was ich Ihnen sagen könnte.“ Er wischte mit den Händen über seine Kutte. „Er verbringt viel Zeit bei uns, um zu malen. Hier, sehen Sie —“, er deutete auf ein kleines Gemälde, das ein paar Schritte den Korridor hinunter hing, „das ist neu. Er ist ein stiller Mann. Will keinen Ruhm für seine Arbeit, wissen Sie? Vater Georg wollte Schilder mit seinem Namen anbringen, aber er war dagegen.“
„Stammt er hier aus der Gegend?“
„Er hat ein Haus außerhalb von Hawqa. Er lebt sehr zurückgezogen.“
Sie lächelte. „Ich wurde in Hawqa geboren.“ Nachlässig strich sie eine Haarsträhne aus der Stirn. „Meine Eltern leben noch dort. Ich bin nach Italien gegangen, um Kunstgeschichte zu studieren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich frage mich nur, wieso ich nie von diesem Künstler gehört habe. Ist er schon länger hier ansässig?“
„Fragen Sie am besten Vater Georg“, schlug Gratien vor. „Er kann Ihnen sicher besser helfen als ich.“
Sie wandte sich dem kleinen Bild zu, einer Holzplatte, vielleicht dreißig Zentimeter im Quadrat. Ein Fensterausschnitt war darauf gemalt, verzierte Gitter vor schwarzem Grund. Bei genauerem Betrachten offenbarte sich ein Gesicht in den Schatten. Den einzigen Kontrast bildete ein Lichtreflex auf dem Fensterrahmen, der aussah wie ein blutiger Handabdruck.
„Ich besuche ihn“, sagte Azizah.
„Hör mal, du kannst nicht einfach bei ihm zur Tür reinplatzen“, erwiderte Chiara, ihre italienische Freundin.
Sie saßen im Innenhof von Azizahs Elternhaus, gemeinsam mit ein paar Freunden. Azizahs Mutter hatte Kaffee gekocht und sich dann zurückgezogen. Azizah wusste, dass sie zu einer Nachbarin gegangen war und erst in ein paar Stunden zurückkommen würde.
Sie lächelte Chiara über den Rand ihrer Tasse an. „Hier ist das anders als in Europa. Die Mentalität der Leute ist geselliger. Es ist nichts dabei, seine Nachbarn zu besuchen.“
„Aber er ist nicht dein Nachbar“, wandte Chiara ein, „er wohnt außerhalb des Dorfes.“
„Hier ist jeder der Nachbar eines anderen“, sagte Azizah gleichmütig. „Es ist ein Akt der Höflichkeit, sich den Nachbarn vorzustellen.“
Das beiläufige Gelächter ihrer
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