Die Wiege des Windes
Ostfriesland im November 1997
Horst Winterberg stand vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtete sein vom Leben zerfurchtes Gesicht. Die grauen Bartstoppeln wirkten wie ein abgeerntetes Kornfeld im Herbst. Seine grauen, feuchten Augen, umgeben von bläulichen Schatten, wirkten starr und leblos.
Die letzten Tage hatten den Rest an Energie aufgebraucht, der noch in ihm gesteckt hatte. Er fühlte sich alt, abgenutzt und ausgelaugt wie eine leere Batterie, nutzlos und überflüssig. Die Augenblicke vergingen, bis sein Spiegelbild in der feuchtwarmen Luft langsam verblasste. Er öffnete seinen Bademantel, zog ihn aus und legte ihn sauber zusammengefaltet auf den kleinen Hocker neben der Badewanne.
Mit seiner Hand prüfte er das Wasser. Es war heiß, doch er hatte gehört, je heißer das Wasser, desto weniger Schmerzen würde er empfinden. Bevor er in die Wanne stieg, nahm er noch einen kräftigen Schluck aus der schwarzen Flasche. Er hatte schon immer ein Faible für trockenen Sherry gehabt. Die Hausbar in diesem Hotel war gut bestückt, ausgezeichneter Cognac, hochprozentiger Gin, Martini, Magenbitter und sogar Champagner hatte er in dem kleinen Kühlfach gefunden. Dennoch hatte er auf das Bewährte zurückgegriffen, und der Sherry war wirklich gut. Ob er auch dafür taugte, die Rezeptoren im Gehirn abzuschalten und ihn vor allzu heftigen Schmerzen zu bewahren, würde sich noch herausstellen.
Er hatte sich entschieden. Er hatte in den letzten Tagen überlegt, welche Auswege ihm noch offenstanden, und war zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch diesen einen für ihn gab, um seinen Ruf und seine Familie zu schützen. Seine Frau, die in verschiedenen sozialen Organisationen tätig war, seine älteste Tochter Annika, die erst vor kurzem die neue Praxis in der Altstadt eingerichtet hatte, und Hannes, seinen Sohn, der gerade vor dem Aufstieg in der Firma stand.
Nur wenn er, Horst Winterberg, nicht mehr wäre, dann würde über alles der Mantel des Schweigens fallen. Depressionen und Angstzustände waren häufige Gründe, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Und dass es hinterher nach einem solchen Lebensdrama aussehen würde, dafür hatte er gesorgt. Die Polizei würde kommen, würde Fragen stellen und die richtigen Antworten finden. Als junger Mann war er wegen Depressionen in Behandlung gewesen. Das Bild war schlüssig. Also würden die Ermittlungen schnell zu dem gewünschten Ergebnis führen. Er wusste, wovon er sprach, schließlich war er lange genug Beamter. Er wusste, wie diese Sorte Menschen dachte, wie sie agierten und welche Schlüsse sie zogen.
Für ihn gab es keine Zweifel mehr und kein Zurück. Er hatte sich zu tief in den Dschungel verstrickt, er war zu weit gegangen. Dabei hätte er es sich nie vorstellen können, dass ausgerechnet er in solch eine Situation kommen konnte. Er hatte immer ehrlich und redlich gehandelt, hatte sich nie auf irgendwelche dunklen Geschäfte eingelassen. Bis auf dieses eine Mal.
Der Schweiß rann ihm über die Stirn. Die Hitze machte ihn müde und der Sherry zeigte langsam Wirkung. Der Zeitpunkt war gekommen – wenn er jetzt nicht handelte, dann würde er langsam dahindämmern.
Der, Brief lag auf der kleinen Kommode neben dem Waschbecken. »Für Ines«, stand darauf in großen Buchstaben. Er griff noch einmal zur Flasche. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und hinterließ ihre Schärfe auf seiner Zungenspitze.
Er nahm das Tapetenmesser, das er in einem Baumarkt gekauft hatte. Längs, nicht quer, sagte er sich. Das ist der Fehler, den die meisten begehen, die hinterher in einem weißen Zimmer auf ein Bett geschnallt aufwachen und mit ihrem Makel zum Weiterleben gezwungen werden. Längs also!
Er setzte das Messer an und schnitt in das Fleisch. Es war, als ob man eine Spritze bekam, ein kurzer, beißender Schmerz zu Beginn der Prozedur, doch als die Klinge durch die Haut in die Fasern eindrang, war es ganz einfach und fast schmerzlos.
Er beobachtete, wie sich das Wasser färbte. Es war der letzte Eindruck, den er wahrnahm, bevor sich das rote Leben im weißen Schaum verlor.
Drei Wochen später …
Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nicht mehr geschlafen. Seine Hände zitterten vor Kälte, dennoch presste er das Fernglas fest an seine brennenden Augen. Der kleine Kreuzer mit dem rostroten Anstrich ankerte nun schon seit einer Stunde westlich der Nordergründe.
Sie hatten dort drüben etwas an einer Winsch heruntergelassen. Das straff gespannte Seil
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