Das letzte Zeichen (German Edition)
Ab jetzt würden sie beide diesen Schutz nicht mehr haben.
Aber sie hätte Raffy, sagte sie sich. Sie würden zusammen sein und frei, wie sie es sich immer erträumt hatten.
Evie wollte einen möglichst großen Bogen um Linus machen und war deshalb anders gegangen als Raffy, auf Zehenspitzen hinter Marthas Schlafstelle vorbei. Nun bewegte sie sich angstvoll auf George zu. George war groß und breit und seine Gestalt nahm einen großen Bereich im Zelt ein. Sie konnte nicht über ihn hinwegsteigen. Da war nichts zu machen, ihre Beine waren nicht lang genug. Sie musste springen. Raffy blickte auf und erkannte ihre verzwickte Lage. Er drehte sich um und suchte nach einer anderen Möglichkeit für sie. Sie konnte nur genau so wieder zurück zu ihrem Schlafplatz und von dort Raffys Weg folgen. Sie atmete tief durch und sprang. Raffy riss die Augen auf vor Schreck und beide hielten den Atem an. Sie kam auf dem Boden auf, stieß leicht gegen die Zeltwand, aber niemand wachte auf. Sie lächelte. Das war ein gutes Zeichen. Es würde gut gehen.
Raffy öffnete die restlichen Verschlüsse. »Machst du es dann von außen wieder zu?«, flüsterte Evie. Er schüttelte den Kopf.
»Keine Zeit.«
»Aber dann sind sie einem Angriff schutzlos ausgesetzt«, erwiderte Evie, die schon wieder von Schuldgefühlen geplagt wurde. »Wir müssen es tun.«
»Es wird schon gut gehen«, antwortete Raffy. »Immerhin liegen sie im Zelt, oder? Sind doch selber schuld, wenn sie uns gefangen nehmen. Und als Angel mich geschlagen hat, da haben sie sich auch keine Sorgen gemacht um uns, oder?«
Evie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie gab ihm die Hand und er drückte sie aufmunternd. Dann schlich sie vorsichtig hinter ihm hinaus in die kühle Nachtluft. Der Boden unter ihren Füßen war feucht – es musste inzwischen geregnet haben, aber das Land hatte das ganze Wasser gierig aufgesogen, nur ein feuchter Dunst war geblieben.
»Da lang«, befahl Raffy und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wir müssen so weit wie möglich weg vom Base Camp.«
»Aber da geht es zurück zur Stadt«, erwiderte Evie. »Gehen wir lieber nach Norden, wie Lucas gesagt hat.«
»Und da sind wir direkt Linus in die Arme gelaufen«, fauchte Raffy gepresst.
Evie starrte ihn an. »Das konnte Lucas nicht wissen«, entgegnete sie.
»Und wenn doch? Was, wenn er wollte, dass Linus die Drecksarbeit für ihn erledigt«, sagte Raffy schneidend.
»Und was für eine Arbeit sollte das sein?«
Die beiden erstarrten, als sie die Stimme hörten, die sie nur zu gut kannten. »Glaubst du, dein Bruder hat dich verraten?«
Im Mondschein konnte Evie sehen, wie wütend und verzweifelt Raffy war. Es war ihre Schuld. Sie hätte nicht widersprechen sollen; sie wären jetzt schon längst weg. Hatte sie es mit Absicht getan? Glaubte Raffy das? Wenn ja, dann zeigte er es zumindest nicht, er sah sie nicht einmal an. Sein Blick war auf Linus gerichtet, seine ganze Energie konzentrierte sich auf ihn. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, bereit zum Losschlagen.
»Lass uns gehen«, sagte er heiser. »Ihr braucht uns nicht. Und wir brauchen euren Schutz nicht. Wir können selbst auf uns aufpassen. Lass uns gehen.«
Linus überlegte einen Augenblick lang. »Ihr wollt wirklich gehen?«, fragte er. »Euch allein durchschlagen? Evie, willst du das auch?«
Evie zögerte so lange, dass Raffy sich schließlich umdrehte und sie anstarrte. »Ja«, sagte sie. »Ich will es auch.«
Linus nickte langsam. »Ich verstehe.« Dann zuckte er mit den Schultern.
»Dann können wir also gehen?«, fragte Raffy, einen Funken Hoffnung in der Stimme. »Ihr lasst uns ziehen?«
Linus’ Augen glänzten im Mondschein. Er sah weise aus, dachte Evie bei sich, aber traurig. Seine Augen funkelten zwar, aber nicht vor Freude. Da war etwas anderes und sie erkannte es. Es war Schmerz. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Angel?«, rief er leise. Sofort erschien sein Gefolgsmann. Raffy versuchte loszurennen und schrie Evie zu, mit ihm zu kommen, aber es hatte keinen Sinn. Angel ergriff zuerst Raffy, übergab ihn Linus und packte dann Evie. Sie sah, wie Linus Raffys Gesicht auf den Boden drückte, während er ihm einen Strick um die Handgelenke band. Dann fesselte Angel Evies Hände.
»Ihr geht nirgendwohin, außer mit uns«, sagte Linus ruhig. »Wenn ihr noch einmal versucht, das Lager zu verlassen, seid ihr tot.«
»Warum?« Raffy tobte und wehrte sich, aber Angel hielt ihn
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