Das letzte Zeichen (German Edition)
die dunkle Nacht sich herabgesenkt, ohne dass Evie es bemerkt hatte.
»Aber sicher«, antwortete Raffy sofort. »Danke.«
Er ging zum Lagerfeuer, Evie folgte ihm, zögernd allerdings. Linus ging neben ihr. »Ein ungestümer junger Mann, dein Freund«, sagte er. »Mutig, aber ungestüm. Das ist nicht immer eine gute Kombination.«
Evie biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Du dagegen … Na ja, du bist anders«, fuhr er nachdenklich fort. »An dir liegt es nicht, dass ihr jetzt auf dieser Seite der Stadtmauer seid, oder?« Evie sagte nichts, aber Linus schien auch keine Antwort zu erwarten, er fuhr unbekümmert fort. »Du bist hier, um ihn zu beschützen, was natürlich eine Ironie ist, weil er sich für den großen Beschützer hält. Aber Schutz hat nichts mit Kraft zu tun. Da geht es um Intelligenz und Verstehen. Darum, zu wissen, wann man weglaufen muss und wann bleiben. Meinst du nicht auch?«
Evie starrte ihn an und war froh, dass es dunkel war, denn ihre Wangen waren feuerrot angelaufen. Konnte er wirklich in sie hineinsehen? Wieso wusste er immer genau, was sie dachte, obwohl sie ihre Gefühle doch tief in ihrem Herzen verbarg.
Linus lachte in sich hinein. »Er ist ein guter Junge. Das sehe ich. Aber er wird sich in große Schwierigkeiten bringen, wenn du ihn nicht daran hinderst. Du weißt, was du zu tun hast, und ich glaube, ich kann darauf zählen, dass du es tust. Genau wie Raffys Bruder auf dich gezählt hat.«
Evie fühlte sich benommen. Er wusste es. Er wusste Bescheid über Raffys Plan.
Linus drückte ihr sanft die Hand. Gleich darauf war er fort und ging zu Angel und Martha ans Lagerfeuer. Er reichte Raffy einen Teller weiter und ließ sich nieder. Evie ging hinüber und setzte sich neben Raffy. Ihr Gesicht fühlte sich immer noch heiß an. Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, weil sie nicht wusste, ob überhaupt noch irgendjemand auf sie zählen konnte. Besonders Raffy.
15
E vie versuchte, etwas zu essen, und löffelte die porridgeartige Pampe, die Martha gekocht hatte. Ihr Magen war allerdings nicht interessiert an Essen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzudrehen und sich zusammenzuziehen, immer wenn Raffy sie ansah oder wenn Linus ihrem Blick begegnete.
Doch obwohl sie nichts essen konnte, trotz Raffys Versuchen, sie dazu anzuhalten, wünschte sie sich, die Mahlzeit würde nie enden, Linus und Angel und Martha und auch George und Al, wie die beiden schweigsamen Männer hießen, würden nie zu Bett gehen und einschlafen, damit sie nicht dazu gezwungen wäre, sich entscheiden zu müssen. Mit Raffy zu fliehen oder ihn von der Flucht abzubringen. Ihn zu verraten oder zuzulassen, dass er in den Tod ging – ihrer beider Tod.
Linus stand als Erster auf. »Na dann, ich geh ins Bett«, verkündete er. »Ich schlage vor, dass wir uns alle gut ausschlafen.« Hatte er Evie direkt angesehen, als er das sagte? Sie war sich nicht sicher. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würden seine Augen sich in ihre Seele bohren.
Angel ging kurz darauf. Martha räumte erst auf, unterstützt von Evie, die sich unbedingt irgendwie beschäftigen musste. Dann grunzten George und Al Gute Nacht und folgten ihr ins Zelt. Raffy stand auf.
»Schlafenszeit«, sagte er laut und gähnte. »Ich bin müde.«
Evie nickte. Er wollte, dass sie die Scharade mitspielte, aber sie konnte nicht. Stattdessen folgte sie ihm schweigend. Sie stieg über Al und George hinweg, die sich mit ihren Schlafsäcken am Zelteingang eingerichtet hatten, zu dem für sie und Raffy freigehaltenen Platz.
Dann warteten sie.
Sie warteten eine Stunde, bis ringsum nur noch tiefe Atemzüge und leises Schnarchen zu hören waren. Dann griff Raffy zu Evie hinüber und rüttelte sie kurz an der Schulter. Evie hatte sich die ganze Zeit nicht einmal getraut zu blinzeln und setzte sich sofort auf. Ihr Herz klopfte heftig.
Vorsichtig stemmte sich Raffy hoch und arbeitete sich in der Hocke langsam Richtung Zeltöffnung. Evie folgte ihm. Sie wagte kaum zu atmen oder darüber nachzudenken, was sie gerade taten und was ihnen bevorstand. Vorsichtig, ganz sachte tasteten sie sich weiter über die Schlafenden hinweg, durch die warme, stickige Luft im Zelt. Raffy stieg über Al hinweg und machte sich ans Öffnen der Verschlüsse. Da waren drei Lagen Stoff mit verschiedenen Reißverschlüssen und Vorhängeschlössern, wie bei den anderen Zelten auch. Um die wilden Tiere fernzuhalten, hatte Martha erklärt, als Evie ihr beim Abbauen geholfen hatte.
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