Das letzte Zeichen (German Edition)
ihn an. »Sag mir, woher willst du das wissen?«
»Weil sie erst vor einem Jahr zu uns kam«, antwortete er gequält, und sein Blick war voller Verzweiflung. »Weil …«
Er redete nicht weiter, schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich dann wieder zu ihr hin. »Evie, sie ist nicht deine Mutter. Ich weiß es. Und selbst wenn sie es wäre … selbst wenn wir sie finden würden … versteh doch. Die Versehrten sind keine Menschen wie wir. Man hat gedacht, man würde mit der Amygdala das Böse aus ihrem Gehirn entfernen, aber in Wahrheit hat man alles entfernt. Jedes moralische Empfinden. Jeglichen Sinn für Gut und Böse, für Ursache und Wirkung. Die Versehrten sind … versehrt, Evie. Irreparabel geschädigt. Annabel ist sogar noch eine von denen, die ein Stück weiter sind oder die weniger entmenscht sind, wie immer du es sehen willst. Sie hat Sehnsüchte, und das ist mehr, als man von den anderen sagen kann.«
»Sehnsüchte? Und das macht sie zum Menschen«, flüsterte Evie. »Damit ist sie wie wir.«
»Nein«, widersprach Linus. »Das macht sie einfach nur gefährlich. Sie hat nur einen einzigen Wunsch. Sie will wieder zurück in die Stadt. Sie glaubt, wir hätten sie entführt und würden sie fernhalten von dem Ort, wo sie immer hinwollte. Sie weiß nicht, was dort mit ihr passiert ist. Sie weiß nicht, dass man sie dort hinausgeworfen hat.«
»Ich kann es ihr erklären«, sagte Evie unsicher. »Damit sie begreift …«
»Sie wollte dich töten«, erklärte Linus ernst und sah sie auf einmal eindringlich an. »Sie hätte dich getötet. So sehr wünscht sie sich, in die Stadt zurückzukehren. Verstehst du? Sie hat dich hereingelockt als Köder.«
»Nein.« Evie schüttelte weinend den Kopf. »Nein.«
»Doch.« Linus legte seine Hand auf die ihre. »Und deshalb müssen wir zurück zur Stadt. Deshalb müssen wir die Dinge dort verändern. Wir müssen zurückschlagen. Für deine Eltern. Für die anderen Versehrten. Für alle Ds und Ks und wegen all dem Leid, das der Bruder mit seinem System angerichtet hat.
»Und meine Eltern?«, fragte sie trotzig.
Linus seufzte. »Wenn deine Eltern überhaupt noch am Leben sind, dann sind sie nicht mehr in der Lage, deine Eltern zu sein.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Du willst nur, dass ich das glaube, damit ich deinen Plan unterstütze. Damit ich dir den Schlüssel zur Stadt gebe. Aber das werde ich nicht. Nur wenn du meine Mutter freilässt.«
Linus sah sie traurig an. »Evie, den Schlüssel haben wir längst. Glaubst du, dass er immer noch in Raffys Rucksack ist?«
Evie starrte ihn wütend an. »Ihr habt ihn schon?«
»Wir arbeiten schon sehr lange an diesem Plan«, sagte Linus. »Dein Schlüssel und die Verbindung mit Lucas waren für uns das Zeichen zum Losschlagen, aber das war es nicht allein. Wir waren bereit. Wir haben gewartet. Bist du dabei? Kommst du mit uns? Willst du kämpfen? Etwas verändern?«
Evie sah ihn an, sein nussbraunes und von Falten durchzogenes Gesicht, die funkelnden blauen Augen, die Güte und Stärke und den Schmerz, die in seine Züge eingegraben waren. Dann blickte sie zurück zum Zelt der Versehrten. Angel stand davor und Raffy stand neben ihm und sah angstvoll zu ihr herüber und lächelte ihr zu.
Sie nickte, eine ganz kleine Bewegung, die man leicht hätte übersehen können. Doch Linus übersah sie nicht.
»Braves Mädchen«, murmelte er, und diesmal klangen seine Worte ermutigender. Er legte den Arm wieder um sie und drückte sie. »Und, Evie, du bist nicht allein. Es gibt keinen Grund, das zu denken. Wir sind bei dir. Dein Freund Raffy ist bei dir, auch wenn es gerade nicht so aussieht. Und …« Er stand auf. »Und ich könnte mir vorstellen, dass sich auch Lucas freut, dich wiederzusehen.« Er zwinkerte kurz, und Evie hatte das seltsame Gefühl, dass Linus irgendetwas wusste. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Und bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, war er fort. Und sie sah, dass Raffy nur ein Stück von ihr entfernt unschlüssig herumstand. Seine Miene war unergründlich, die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Geht schon«, brachte sie heraus.
Er nickte, kam langsam zu ihr und setzte sich neben sie. Er berührte sie nicht, er redete nicht mit ihr, aber er saß neben ihr. Und dafür war Evie so dankbar, dass sie es gar nicht sagen konnte.
20
A ugen und Nase verklebt von Dreck und Staub. Sie ringt nach Atem. Eine
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