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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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sie mir bitte.
    Martens sagte, der Anführer habe Chargul geheißen, sein Stellvertreter Gul Baz, mehr wisse er nicht.
    Sie waren vier Monate lang mit Ihren Entführern zusammen und kennen nur zwei Namen? Von denen einer nicht stimmen kann, denn laut meinen Informationen sind Sie von einem gewissen Dilawar Barozai entführt worden.
    Martens sagte, seines Wissens habe der Anführer Chargul geheißen.
    Kennen Sie die Namen der Dörfer, in die Sie gekommen sind? Lagen die Dörfer an einer Straße? War die Straße asphaltiert oder war es eine ungepflasterte Straße? War ein Fluss in der Nähe? Aus wie vielen Häusern ungefähr bestanden die Dörfer? Wo befand sich der Dorfplatz? Gab es irgendwelche auffälligen Gebäude, anhand derer wir eines der Dörfer identifizieren könnten?
    Martens gab vage Antworten. Er hatte mit diesen Leuten gegessen, er wollte nicht, dass sie starben, nicht einmal Yousef. Er verwischte ihre Spuren, um sie vor dem Jäger zu schützen, der im Recht war. Omar und Dilawar waren eine Plage für dieses Land, während Seegemann eine Ordnung herzustellen versuchte in der Verwilderung, ohne Ordnung konnte es kein Glück geben. Aber Omar und die anderen suchten nicht nach Glück. Sie hatten ihre Väter, Brüder, Söhne verlassen, ihre Heimatdörfer, ihre Äcker, um in den Bergen herumzustreifen. Sie hatten sich für das Herumstreifen entschieden, weil ihnen bei der Feldarbeit Wurzeln gewachsen waren, sie hatten die Füße angehoben und die Wurzeln gesehen, die ihre Füße an den Acker fesselten, und ein heimliches Grauen hatte sie anfällig gemacht für die Versprechungen des Horizonts. Ein verlockender Sog in die Ferne, in der alles offen war und Schätze bereitlagen. Geld und Ehre waren dort zu holen, das stand fest, darüber hatten andere, die vor ihnen dort gewesen waren, berichtet. Yousef, Mirwais, Omar, sie waren alle einmal losgezogen zum Horizont, und sie hatten sich in die Ungebundenheit verliebt – aber war es eine glückliche Liebe oder nur eine, von der man nicht loskam?
    Seegemann stellte seine Fragen, die der Herstellung einer Ordnung dienten und der Beseitigung ihrer Feinde. Seegemann wollte Schulen, in denen auch Mädchen unterrichtet wurden, er wollte Straßen und Fahrpläne, damit die Mädchen in Bussen zur Schule fahren konnten, er wollte eine Polizei, die sicherstellte, dass der Bus auf der Fahrt zur Schule nicht in die Luft gesprengt wurde. Seegemann vertrat das Gute, das Sesshafte. Er wollte Omar, Dilawar und Mirwais in ihre Dörfer zurückzwingen, er wollte die Streuner an ihre Pflüge festnageln, und um es ihnen schmackhaft zu machen, versprach er ihnen ein Krankenhaus, das Ende der Stromausfälle, ein Fernsehgerät in jedem Gehöft und Nan, so viel ihr essen könnt. Aber er versprach ihnen nicht diese besondere Freiheit, die sie auf ihren Streifzügen erlebten, und nicht das Hochgefühl, gefürchtet zu werden. Alles, was er ihnen in Aussicht stellte, war schal verglichen mit dem Triumph, wenn du in ein Dorf kommst und die Bauern dich wie einen Qadi oder wie einen Mullah behandeln, obwohl du selbst auch nur ein Bauer bist. Man konnte Omar töten, aber es fand dadurch keine Bekehrung statt. Die Plage der Sehnsucht nach dem wilden Leben in den Bergen wurde durch den Tod jedes Mudschahids nur noch größer in den Herzen all der jungen Männer, die sich beim Pflügen durch den Anblick des Ochsenhinterns um ihr Leben betrogen fühlten.
    Der äußere Kreis, sagte Martens.
    Der äußere Kreis?, fragte Seegemann. Was meinen Sie damit?
    Martens drehte sich auf den Rücken, aber auch diese Stellung war nicht bequem. Er legte sich die Hand auf die Stirn, sie war heiß. Das Fieber war zurückgekehrt.
    Sprechen Sie von Ihren Entführern?, fragte Seegemann.
    Nein, ich spreche von Schimpansen, sagte Martens.
    Die Weibchen sitzen im Zentrum des Territoriums der Horde, und sie bewegen sich nicht weit weg davon. Sie versorgen die Kinder und beobachten einander. Die Mütter, die Tanten, die Schwestern, alle beobachten einander. Sie schauen einander an, schmieden Bündnisse mit der einen Tante gegen die andere Schwester, mit der eigenen Mutter gegen eine andere Mutter, die ihr Kind verloren hat und jetzt gern ein neues hätte, warum nicht das einer anderen Mutter. Den ganzen Tag sitzen die Weibchen im inneren Kreis, und es ist tatsächlich ein Kreis, denn um zu erfahren, was die andere vorhat, muss man ihr Gesicht sehen. Rastlos streifen ihre Augen über die Gesichter der anderen, wandern von einem

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