Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
die ihm erzählte, sie sei mit seinem Bruder in Afghanistan gewesen, um ihren ehemaligen Mann gegen Lösegeld aus der Gewalt einer Gruppe von Taliban zu befreien. Nach einem Angriff hätten die Taliban seinen Bruder, sie und ihren ehemaligen Mann als Spione verdächtigt, was einem Todesurteil gleichgekommen sei. Sein Bruder habe, um ihr Leben und das ihres ehemaligen Mannes zu retten, die Schuld für den Angriff auf sich genommen und dem Anführer der Taliban das Angebot gemacht, ihn entweder zu töten oder als Geisel zu nehmen gegen ein Lösegeld von zweihunderttausend Dollar. Sein Bruder habe sie zu ihm, Jonas, geschickt, um ihn zu bitten, das Lösegeld zu bezahlen, und sobald sein Bruder wieder in Deutschland sei, werde er ihm seinen testamentarisch zustehenden Anteil an dem Haus in Friedrichshain überschreiben. Jonas war ein höflicher Mensch, bestimmt hatte er die fremde Frau, die ihm diese haarsträubende, durch keinen Beweis gestützte Geschichte erzählte, nicht einfach hinausgeworfen. Nein, er hatte ihr ruhig zugehört, die Hände flach auf dem Tisch, und nur sein kleiner Finger hatte den Takt seiner Empörung geklopft. Bei der Nennung der Summe hatte Jonas wahrscheinlich stumm mit dem Kopf genickt und sich überlegt, ob er die Polizei rufen oder es abends einfach nur in sein Tagebuch schreiben sollte. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr dokumentierte er täglich sein Leben in ein paar Sätzen, früher handschriftlich, heute am Computer. Vor zwei Jahren, am Tag der Scheidung von seiner Frau Julia, hatte Jonas Martens in die Aufzeichnungen Einsicht nehmen lassen, in der Hoffnung, Martens als Zeugen für Julias Schuld zu gewinnen. Jonas hatte über keinen Tag der achtjährigen Ehe mehr geschrieben als drei oder vier Sätze. Er hatte ereignisreiche Tage, an denen Julia und er sich gestritten hatten oder an denen sie besonders glücklich gewesen waren, genauso knapp beschrieben wie solche, an denen nur der Kauf eines neuen Stabmixers oder ein gemeinsamer Kinobesuch zu berichten gewesen war. Aber keinen einzigen Tag hatte er nicht dokumentiert, auf dem Bildschirm hatte Martens sich durch einen endlosen Strom von Vier-Sätze-Tagen gescrollt. Er hatte die einzelnen Einträge gar nicht mehr gelesen, sondern die monströse Lückenlosigkeit als eigentlichen Inhalt begriffen. A-B-C-D. Miriam hatte bestimmt Wochen gebraucht, um Jonas von der Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte zu überzeugen.
Miriam sagte, sie habe das Geld auf eine Bank in Kabul transferiert. Sie werde in drei Wochen nach Kabul fliegen und es abheben, es sei eine zu große Summe, um sie in ihren Hosen zu schmuggeln – sie spielte auf das Lösegeld für Evren an, sie gab nicht auf, sie versuchte, die Verbindung wiederherzustellen durch das Wecken gemeinsamer Erinnerungen. Aber Martens war zu erschöpft und zu sehr hier, in dem von seinen Bewohnern verlassenen Dorf, dem sich die Kälte der Nacht näherte. Er beneidete Ehsanullah um die Decken, aber vielleicht gab es ja in den Häusern noch mehr davon. Er fröstelte im Wind, der sich in den verschatteten Hängen mit Kälte vollgesogen hatte. Miriam gab sich einen Ruck und sagte, sie vermisse ihn, aber er hätte ihr Bekenntnis gegen eine Decke eingetauscht. Als Dilawar ihm das Handy aus der Hand nahm, vermisste er nichts, nur eine Decke, und als er am anderen Ufer des Flusses eine Bewegung wahrnahm, hatte er das Gespräch schon vergessen. Er war hier und nirgendwo sonst, und ob er morgen noch hier sein würde, lebend und unverletzt, entschied sich vielleicht in diesem Moment. Er machte Dilawar auf die Bewegung aufmerksam, die er gesehen hatte, er sagte there! und zeigte in die Dunkelheit hinter dem Fluss. Dilawar starrte hinüber und sah es auch. Er rief etwas, die Männer rannten zu ihren Waffen und legten sich flach auf den Boden.
Es war still. Man hörte den Fluss und den Nachtwind in den Bäumen. Dilawar, auf dem Bauch liegend, hustete in seinen Ärmel. Und Martens war hier, nur hier, mit der Wange auf dem Boden, den Geruch von Erde in der Nase.
Rückkehr
Im Oktober, mit dem ersten Schnee, kam Miriam zurück. Es war ein ungelenkes Wiedersehen. Lange verharrten sie in einer steifen Umarmung, sie ahmten die Umarmungen von früher nach, als sie füreinander mehr gewesen waren als jetzt. Dilawar stand daneben, mit nachsichtigem Lächeln. Er hatte begonnen, die Welt zu verlassen, jeden Tag ließ er Ballast am Wegrand zurück, er wollte leicht und unbeschwert aufsteigen ins Paradies. Schon längst war
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