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Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Titel: Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka
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sind Männer aus den fernen Provinzen, Söldner ohne Respekt für das Reich. Sie riecht Rauch und Blut und hört mit an, wie Stimmen, die sie ihr Leben lang gekannt hat, wie zerschmetterte Instrumente verstummen. Ihr ganzes Leben wird ausgelöscht. Nichts bleibt mehr übrig.
    Sie kämpft die Übelkeit hinunter und stiehlt sich ins Zwielicht des Atriums. Der sorgsam angelegte Garten ist zertrampelt. Païdes’ Vater lehnt am Brunnen. Sein Arm liegt neben ihm, und der Boden um den Majordomus ist weich von seinem Blut. Er kann noch nicht lange dort liegen. Ihr ist, als zuckten seine Lider, als sie an ihm vorbeigeht, doch seine Augen sehen durch sie hindurch.
    Im Brunnen liegt zusammengekrümmt einer der Angreifer, den Kopf unter Wasser. Das Wasser ist dunkel und plätschert träge über den Rand, und etwas, das zu ihm gehört, doch weder Arm noch Bein ist, hängt aus seinem schlaffen Körper heraus auf das Mosaik vor dem Brunnen. Sie wendet den Blick ab und eilt weiter.
    Sie spürt, dass ihr Vater noch lebt, doch die Angst beginnt ihre Schritte zu lähmen. Es ist nicht die Furcht um ihr oder sein Leben; es ist die Furcht, den wahren Grund für all das herauszufinden, die ihr die Kehle zuschnürt. Sie beginnt zu ahnen, dass sie heute die Antwort auf eine Frage erhalten wird, die sie sich viele Jahre verboten hat zu stellen.

    »Nimm mich mit, wenn du gehst«, bat sie eines Abends. Sie hatte sich davongestohlen, um mit ihm nach einer verlorenen Ziege zu suchen. »Versprich mir, dass du nicht ohne mich gehst!«
    »Wieso?«, fragte der Fealv, und diesmal verspottete er sie nicht, sondern war aufrichtig ratlos, weshalb ein Mädchen, das mehr besaß, als er an einem guten Tag im Gedächtnis behalten konnte, sich weg von ihrem Zuhause wünschte.
    »Weil ich Angst habe«, sagte sie leise. »Lass mich nicht allein.«
    »Wovor?«, fragte er und blieb stehen. »Du hattest doch früher nie Angst. Was ist anders geworden?« Als sie keine Antwort gab, strich er ihr das Haar aus der Stirn und fuhr mit dem Finger ihre Wange hinab zu ihrem Kinn, doch sie wandte trotzig den Blick ab. Sie wollte nicht eifersüchtig sein auf das, was er mit Païdes oder den Mägden anstellte, und sie wollte ihm vertrauen. Gleichzeitig spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers, wie verschieden, ja fremd sie sich waren.
    Sie könnte ihm niemals anvertrauen, was sie an jenem Abend an der Tränke gesehen hatte.
    »Pass auf«, sagte er und nahm sie in den Arm. Sie zuckte kurz zurück, doch dann ließ sie es geschehen. Seine Haut roch nach dem Öl, mit dem er sich einrieb, würzig wie Waldboden im Sonnenschein, und als sie endlich den Kopf hob und ihm in die Augen sah, glaubte sie zu verstehen, was ihr Vater gemeint hatte. »Wenn wir uns wirklich mal verlieren, dann treffen wir uns im Hafen von Ptaraon. Dort beginnt das wahre Leben – keiner von uns wird es schaffen, Abenteuer zu erleben, ohne dass ihn sein Weg übers Meer führt.«
    »Im Hafen«, wiederholte sie. »Und du sagst das nicht bloß?«
    »Im Hafen«, wiederholte er.
    »Am Leuchtturm?«, fügte sie hinzu, ohne zu wissen, ob es dort einen gab, aber der Hafen allein erschien ihr nicht sicher genug.
    »Am Leuchtturm«, bestätigte er, und eine Weile standen sie da und schauten zu, wie die Sterne hervortraten.
    »Die Sterne sind besser als ein Leuchtturm«, murmelte er. »Niemand kann sie dir nehmen.«
    Sie war sich nicht ganz sicher, was er damit meinte, doch sie glaubte ihm.

    Ihr Vater ist in seinem Arbeitszimmer, auf der anderen Seite des Atriums. Er kämpft einen aussichtslosen Kampf. Seine rechte Seite ist blutüberströmt. Zwei Angreifer hat er bereits getötet, doch drei weitere halten ihn mühelos in Schach. Sie beschäftigen ihn, lassen ihm ein ums andere Mal etwas Hoffnung, nur um ihn dann mit einem weiteren Hieb zu demütigen. Heiße Tränen schießen ihr in die Augen, und am liebsten würde sie eine der Waffen vom Boden aufheben und auf die Männer einschlagen, sie einfach in Stücke hauen. Stattdessen geht sie in Deckung und drückt sich tief in die Schatten unter dem umgestürzten Schreibtisch. Sie können mich nicht sehen , sagt sie sich selbst. Solange ich mich nicht bemerkbar mache, werden sie mich nicht sehen.
    In diesem Moment betritt der Eolyn den Raum. Er ist groß und hat schneeweißes Haar, und sein Kettenhemd funkelt im Kerzenschein. Darüber trägt er einen Ledermantel, bodenlang und rabenschwarz – und an seinem Gürtel prangt ein großer Löwenkopf aus Bronze: das Zeichen

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