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Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2

Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2

Titel: Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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leid«, sagte Li Lan.
    Neal schüttelte den Kopf.
    »Ich trauere um sie«, sagte sie. »Ich trauere für uns alle.«
    Sie kniete sich vor ihn hin, zwang ihn, ihr ins Gesicht zu sehen.
    »Als du in Buddhas Spiegel gesehen hast«, fragte sie, »was hast du gesehen?«
    Er starrte ihr in die Augen, bevor er antwortete.
    »Nichts.«
    Sie drückte seine Hand und ließ ihn allein.
    Joe Graham stieg aus der Limousine mit Chauffeur und ging die letzten hundert Meter zur Grenzstation zu Fuß. Die August-Hitze war schrecklich, und er schwitzte selbst in seinem leichten Khaki-Anzug. Ein heißer Wind blies ihm ins Gesicht, während er den Checkpoint betrachtete, ein stacheldrahtbewehrtes Maschendrahttor zwischen zwei Betonbunkern.
    Er stand auf Hongkongs Seite. Vor ihm lag die Volksrepublik China. Um ihn herum braune, verdorrte Berge. Das einzige Geräusch machte der Wind, ein irritierender Kontrast zu der ständigen Kakophonie Kowloons.
    Er sah die Grenzer die Papiere eines jungen Mannes in einem grauen Anzug überprüfen. Das Bündel, das der Junge unter dem Arm hatte, durchsuchten sie nicht. Diplomatische Immunität, dachte Graham, als der Abgesandte die Grenze überschritt und langsam auf ihn zukam. Graham setzte sich wieder in Bewegung.
    »Mr. Joseph Graham.«
    Der Junge warf einen Blick auf Grahams Arm.
    Mein Gott, ist der jung, dachte Graham. Oder vielleicht bin ich alt. Sie sagen, Trauer macht einen älter. Sie haben recht.
    »Mr. Wu?« fragte Graham.
    Der Junge verneigte sich. »Ich möchte Ihnen mein Mitgefühl und das meiner Regierung ausdrücken.«
    »Vielen Dank.«
    »Ein ausgesprochen tragischer und unglücklicher Unfall.«
    Von wegen Unfall, am Arsch, dachte Graham. Ihr Schweine habt ihn gekillt. Graham wollte ihm in die Fresse schlagen, aber er hatte keine Kraft mehr. Seit er von Neals Tod erfahren hatte, fühlte er sich leer.
    »Konnten Sie den Leichnam bergen?«
    Der Junge wurde rot. »Leider nein. Bitte verstehen Sie, daß der Abgrund, in den Mr. Carey gestürzt ist, nicht zugänglich ist.«
    Graham antwortete nicht. Der Junge hielt ihm das Bündel hin, es war in braunes Papier eingewickelt.
    »Mr. Careys Sachen.«
    »Er hatte offensichtlich nicht viel bei sich.«
    Der Junge wurde wieder rot.
    »Können Sie mir mehr darüber sagen, warum Neal in…«
    »Wie Sie wissen, Mr. Graham, schließt unser Arrangement insbesondere ein Gespräch über die Umstände aus. Belassen wir es dabei, zu sagen, daß Mr. Carey einem Bergsteigerunglück erlag.«
    »Er hatte Höhenangst.«
    »Eben.«
    Graham gab auf. Neal war tot, und es war nicht mehr wichtig, warum oder wie.
    »Danke für Ihre Hilfe«, sagte er.
    »Gern geschehen, und mein tiefes Beileid für Ihren Verlust.«
    Sie sahen einander an. Der Junge schien noch etwas sagen zu wollen. Graham wartete noch einen Moment, dann drehte er sich um und ging zurück zum Wagen.
    Dann hörte er Wu sagen: »Mr. Graham.«
    Graham drehte sich um.
    »Mr. Carey hat Literatur geliebt.«
    »Yeah.«
    »Wir hatten wunderbare Gespräche über Huckleberry Finn.«
    Na und?
    »Freut mich«, entgegnete Graham.
    Wu zeigte auf das Bündel. »Vor allem die Szene auf Seite 94! Wo Jim auf der Insel Huck trifft.«
    »Okay.«
    Wu drehte sich um und kehrte zurück über die Grenze.
    Graham stieg in den Wagen und riß das braune Papier auf. Ein altes Hemd, eine Hose, eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Huckleberry Finn. Er blätterte zu Seite 94 und las die unterstrichene Passage.
    Er hielt das offene Buch im Schoß und weinte. Dann las er noch mal:
     
    Ich hab’ nich’ lang gebrauch’, um ihm kapier’n zu
    machen, daß ich nich’ tot war. Ich war sogar froh, 
    Jim wiedazuseh’n. Jetzt wa’ ich nich’ mehr allein.
    Ich sachte ihm, dassich keine Angst hatt’, dasser den
    Leut’n erzählt, wo ich steck’. 
     
    Graham sprang aus dem Wagen und rannte zurück zur Grenze. Er hatte Huckleberry Finn nie gelesen, aber er hatte den Film gesehen. Er erinnerte sich, daß Huck seinen Tod vorgetäuscht hatte und auf einem Fluß verschwunden war. Aber er erinnert sich nicht mehr, wie es aufhörte. Er rannte zu dem Maschendrahttor und brüllte.
    »Hey, Wu!«
    »Ja?«
    »Hat Huck Finn es nach Hause geschafft?«
    Wus Lächeln war weit und breit wie der blaue Himmel.
    »Fuck, ja!« sagte er, dann: »Oh, ja, Tante Sally. Er kommt nach Hause!«
    Tante Sally?! dachte Graham. Was soll das heißen? Ich lese wohl besser das Buch. Er kehrte zurück zum Wagen, sagte dem Fahrer, er solle ihn zum Flughafen fahren, und

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