Das Licht Von Atlantis
vor, Rivedas Worte lebendig im Gedächtnis, und kniete anbetend vor dem verschwimmenden Bildnis nieder.
Endlich erhob sie sich, frierend und verkrampft. Riveda stand in ihrer Nähe. Er hatte die Kapuze von seinem markanten Kopf genommen, und sein silbriges Haar glänzte in dem fahlen Licht wie ein Strahlenkranz. Sein Gesicht war von einem seltsamen Lächeln erhellt.
»Du hast Mut«, stellte er ruhig fest. »Du wirst noch weitere Proben zu bestehen haben, aber für jetzt ist es genug.« Ohne sich zu verneigen, stand er neben ihr vor dem großen Bildnis und sah zu ihm hoch. Seine Augen sahen es ganz anders: gesichtslos, überwältigend und streng, ohne jedoch schrecklich zu sein, erschien es als eine in Grenzen gehaltene, aber nicht völlig gezähmte Macht. Er hätte gern gewusst, welche Erscheinung Deoris von dem Avatar hatte, und er berührte leicht ihr Handgelenk. In einer kurzen Vision schien der Gott zu zerfließen, sich zu verändern und für einen Augenblick nahm er die Gestalt eines sitzenden Mannes mit über der Brust gekreuzten Händen an. Riveda entließ die Vision mit einem Kopfschütteln, fasste Deoris' Handgelenk fester und führte sie durch einen Bogengang in eine Reihe von merkwürdig eingerichteten Räume, zu denen man durch die größere Krypta gelangte.
Dies unterirdische Labyrinth war ein Mysterium, zu dem die meisten Tempelleute keinen Zugang hatten. Auch die wagemutigsten Mitglieder der Graumantel-Sekte kamen nur selten her, obwohl ihr Orden mit seinem Ritual dem Verhüllten Gott huldigte und ihn bewachte. Nicht einmal Riveda kannte diese Höhlen in ihrer ganzen Ausdehnung; er hatte seine Forschungen nie sehr weit in das heimliche Labyrinth ausgedehnt, das früher einmal eine große, täglich besuchte Kultstätte gewesen sein musste. Es breitete sich unter dem gesamten Tempel des Lichts aus, und gerüchteweise hieß es, die Schwarzmäntel benutzten die verbotenen Höhlen für ihre geheimen Teufeleien. Obwohl Riveda sich oft wünschte, sie zu entdecken, gefangenzunehmen und für ihre Verbrechen zu verurteilen, war er nie mehr als ein kleines Stück in den Irrgarten vorgedrungen.
Jetzt führte er Deoris in einen nahegelegenen Raum. Er war sparsam im Stil einer lange zurückliegenden Epoche möbliert und von einer jener immer brennenden Lampen erhellt, deren Geheimnis die Priester des Lichts nie ergründet hatten. Die flackernde, tanzende Beleuchtung erhellte kryptische Symbole an den Wänden. Riveda war dankbar dafür, dass das Mädchen sie nicht kannte. Er selbst hatte ihre Bedeutung erst vor kurzem mit großer Mühe und nach langem Studium enträtselt, und selbst Rivedas eisige Gemütsruhe war von ihrem obszönen Inhalt erschüttert worden.
»Setz dich hier neben mich«, forderte er sie auf, und sie gehorchte ihm wie ein Kind. Hinter ihnen geisterte der Chela wie ein Nebelschwaden durch die Tür und blieb mit einem sinnentleerten, ausdruckslosen Blick stehen. Riveda beugte sich vor, den Kopf in die Hände gestützt. Deoris sah zu ihm auf, neugierig und vertrauensvoll.
»Deoris«, sagte er schließlich, »Es gibt vieles, was ein Mann niemals ausloten kann. Frauen wie du haben eine bestimmte Wahrnehmungsfähigkeit. Ein Mann kann sie, wenn überhaupt, nur unter der sicheren Führung einer solchen Frau erwerben.« Er hielt inne; mit einem kalten Blick sah er ihr nachdenklich in die Augen. »Eine solche Frau muss nicht nur Mut haben, sondern auch Kraft, Wissen und Einsicht. Du bist sehr jung, Deoris, du hast noch viel zu lernen - aber mehr denn je glaube ich, dass du eine solche Frau werden kannst.« Riveda ließ seinen Worten ein längeres Schweigen folgen, das ihnen besonderen Nachdruck verlieh. Dann fuhr er fort, und seine Stimme klang tiefer als vorher: »Ich bin nicht mehr jung, Deoris, und vielleicht habe ich nicht das Recht, dich um etwas Besonderes zu bitten; du bist jedoch die erste Frau, bei der ich das Gefühl habe, ich könnte ihr trauen - und ihr folgen.« Bei diesen Worten war sein Blick von ihr abgeirrt. Dann sah er sie wieder eindringlich an. »Wärest du einverstanden, dich von mir lehren und zum Bewusstsein dieser Kraft in dir leiten zu lassen, um mich eines Tages auf dem Weg zu führen, den kein Mann ohne Hilfe einer Frau zu beschreiten vermag?«
Deoris drückte die Hände gegen ihre Brust. Sie war überzeugt, der Adept könne das Klopfen ihres Herzens hören. Ihr war schwindlig und übel, sie fühlte sich vor lauter Panik schwerelos - und es war ihr bewusster denn je,
Weitere Kostenlose Bücher