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Das Licht Von Atlantis

Das Licht Von Atlantis

Titel: Das Licht Von Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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wie Micon meist gewesen war, nur lange nicht so freundlich.
    Das Leben im Grauen Tempel spielte sich hauptsächlich nachts ab. Deoris verbrachte diese Nächte mit einem seltsamen Unterricht, der ihr anfangs unverständlich blieb - Worte und Gesänge, deren genaue Intonierung sie beherrschen musste, Gesten, die mit beinahe mechanischer, mathematischer Präzision auszuführen waren. Gelegentlich teilte Riveda ihr in einer Art, die entfernt nach Humor klang, eine kleine Aufgabe als Skriptorin zu, und oft nahm er sie mit hinaus vor die Mauern des Tempels. Denn obwohl er Gelehrter und Adept war, hatte die Rolle des Heilers bei ihm immer noch Vorrang. Unter seiner Anleitung entwickelte Deoris ein Können, das dem ihres Lehrers fast gleichkam. Auch wurde sie Expertin in der Hypnose: Manchmal, wenn ein gebrochenes Glied geschient oder eine tiefe Wunde geöffnet oder gesäubert werden musste, verließ Riveda sich darauf, dass sie den Patienten in tiefer Trance hielt, damit er selbst langsam und gründlich arbeiten konnte.
    Er erlaubte ihr nicht oft, den Ring der Chelas zu betreten. Einen Grund dafür nannte er nicht, aber Deoris konnte es sich erklären: Riveda wollte keinem Mann unter den Graumänteln die geringste Möglichkeit geben, sich ihr zu nähern. Sie wunderte sich darüber. Riveda war nämlich alles andere als ein guter Liebhaber, und doch wachte er über Deoris mit einer besitzergreifenden Eifersucht, in der gerade soviel Drohung lag, dass sie nie in Versuchung geriet, seinen Zorn herauszufordern. Es gelang Deoris nie, Rivedas Verhalten wirklich zu begreifen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung von den Ursachen seiner wechselnden Stimmungen, die sich änderten wie der Himmel in der Regenzeit. Manchmal war er sanft und liebevoll. An diesen Tagen war Deoris von großer Freude erfüllt; ihre mit Furcht gemischte Bewunderung für Riveda war zu unschuldig, um sich ganz in Leidenschaft umzuwandeln. Aber manchmal, wenn er sich natürlich gab und seinen bäuerlichen Vorfahren ähnlich wurde, war sie nahe daran, ihn wirklich zu lieben. Nur konnte sie sich nie auf seine Stimmungen verlassen. Über Nacht veränderte sich mitunter seine Persönlichkeit so völlig, dass es an Zauberei grenzte. Dann behandelte er sie geistesabwesend, sarkastisch, so eisig wie irgendeinen beliebigen Chela. In solchen Momenten berührte er sie fast nie, aber wenn er es tat, war er von ungeheurer Brutalität. Deoris lernte es, ihm in solchen Zeiten aus dem Weg zu gehen.
    Dennoch war Deoris im großen und ganzen glücklich. Das müßige Leben gab ihrem scharfen und gut ausgebildeten Verstand die Möglichkeit, sich auf alle die seltsamen Dinge zu konzentrieren, die sie von ihm lernte. Langsam und unmerklich verging die Zeit, und bald waren zwei Jahre vorüber.
     
    Zuweilen wunderte sich Deoris darüber, dass sie von Riveda nicht schwanger wurde. Sie fragte ihn mehr als einmal danach. Seine Antwort war entweder ein spöttisches Lachen oder ein Ausbruch von Verärgerung, gelegentlich auch eine stumme Liebkosung und ein zerstreutes Lächeln.
    Deoris stand kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstag, als Riveda begann, höhere Ansprüche in der Beherrschung von rituellen Gesten, Lauten und Intonierungen an sie zu stellen. Sein Ehrgeiz grenzte an Fanatismus. Er selbst hatte ihre Stimme umgeschult, bis sie eine unglaubliche Reichweite und Beweglichkeit bekam. Allmählich begriff Deoris etwas von der Bedeutung und der Macht des Tons: Es gab Worte, die ein schlafendes Bewusstsein erregen konnten; und manche Gesten weckten verborgene Sinne und Erinnerungen.
    Eines Abends nahe der Wintersonnenwende brachte er sie in den Grauen Tempel. Die menschenleere Halle lag verlassen in einem kalten Licht, die Gräue dämmerte wie Raureif auf den Steinen von Wänden und Fußboden. Die Luft war still und frisch, alles wirkte wie abgekapselt von der Wirklichkeit. Der Chela folgte ihnen in seinem grauen Gewand wie ein Geist ohne Stimme mit seinem gelben Gesicht, das im frostigen Licht wie die Maske eines Leichnams wirkte, auf den Fersen. Deoris, die in ihren dünnen safranfarbenen Schleiern zitterte, duckte sich hinter einen Pfeiler und lauschte ängstlich Rivedas knappen, scharfen Befehlen. Seine Stimme war vom Tenor zu einem hallenden Bariton abgesunken, und Deoris wusste, dass dies das erste Zeichen eines bald aufbrausenden Sturms war.
    Nun wandte er sich Deoris zu und legte ihr eine runde, silbrige Kugel, in der sich langsam Lichter bewegten, in die beiden Hände. Er schloss

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