Das Licht Von Atlantis
ja«, murmelte Micon, »eine rote Lilie, die dort wild am Fluss des Sternenbergs wächst. Die Arbeiter reißen sie aus, weil sie überall wuchert. Die Luft ist schwer von ihrem Parfüm. Mir gefällt sie besser als jede Blume, die in gepflegten Gärten wächst. Rot - ein so leuchtendes Rot, dass einem fast die Augen schmerzen, wenn die Sonne darauf scheint, eine fröhliche, lebendige Farbe - eine Blüte der Sonne.« Seine Stimme klang plötzlich müde. Er fasste nach Domaris' Hand, drückte ihr entschlossen das Fläschchen hinein und schloss behutsam ihre Finger. »Er ist für dich, Domaris«, sagte er dann mit einem kleinen Lächeln. »Auch dich krönt das Sonnenlicht.«
Es war ohne Nachdruck gesprochen, doch Domaris musste die Tränen hinunterschlucken. Sie versuchte, ihrem Dank Ausdruck zu geben, aber ihre Hände zitterten, und kein Wort kam über ihre Lippen. Micon schien indes auch keine zu erwarten, denn er sagte mit leiser Stimme, nur für ihre Ohren bestimmt: »Lichtgekrönte, ich wünschte, ich könnte dein Gesicht sehen... Blüte des Glanzes...«
Arvath stand neben ihnen, die Stirn umwölkt. Dann brach er grob das Schweigen. »Wollen wir nicht weitergehen? Wir stehen sonst heute nacht noch hier!« Deoris ging schnell auf den jungen Mann zu und hängte sich bei ihm ein. So konnte Domaris mit Micon vorausgehen - ein Privileg, das Deoris gemeinhin eifersüchtig für sich selbst in Anspruch nahm.
»Ich werde ihre Arme eines Tages mit diesen Lilien füllen«, brummte Arvath und starrte auf das hochgewachsene Mädchen, das an Micons Seite schritt. Ihr flammendes Haar schien in Sonnenlicht zu schwimmen. Als Deoris ihn fragte, was er gesagt habe, wollte er es nicht wiederholen.
4. DIE HÄNDE DES HEILERS
Rajasta blickte von der Schriftrolle hoch, die seine Aufmerksamkeit gefangengenommen hatte, und sah, dass die große Bibliothek verlassen dalag. Noch vor wenigen Augenblicken hatte rings um ihn Papier geknistert, hatte er das leise Murmeln der Skriptoren gehört. Nun waren die Nischen dunkel, und der einzige andere Mensch, den er entdeckte, war ein emsiger Bibliothekar. Er sammelte verschiedene Rollen ein, die auf den Tischen liegengeblieben waren.
Kopfschüttelnd steckte Rajasta die Rolle, die er studiert hatte, in ihre Schutzhülle zurück und legte sie beiseite. Obwohl er heute keine Verabredungen einzuhalten hatte, ärgerte er sich darüber, dass er so viel Zeit damit verbracht hatte, eine einzige Schriftrolle immer wieder und wieder zu lesen - noch dazu eine, die er Satz für Satz hätte auswendig hersagen können. Ein bisschen außer Fassung geraten, erhob er sich und schickte sich an zu gehen. Erst jetzt stellte er fest, dass die Bibliothek gar nicht so leer war, wie er gedacht hatte.
Nicht weit von ihm entfernt saß Micon an einem düsteren Tisch. Sein gewohnheitsmäßiges, leicht verzerrtes Lächeln verlor sich in den Schatten, die über sein Gesicht fielen. Rajasta blieb eine Weile neben ihm stehen. Er betrachtete Micons Hände und das, was sie verrieten. Es waren seltsame, viel zu dünne Hände. Die Finger sahen aus, als seien sie mit Gewalt in die Länge gezogen worden. Die Hände lagen kraftlos auf dem Tisch und wirkten doch irgendwie angespannt oder krampfhaft verrenkt. Geschickt und behutsam nahm Rajasta die schwachen Finger und umschloss sie leicht mit seiner starken Hand. Micon hob fragend den Kopf.
»Sie zeugen von so viel Schmerz«, hörte der Priester des Lichts sich sagen.
»Sie würden schmerzen, wenn ich es zuließe.« Micons Gesicht war darin geübt, nichts als Gleichmut zu zeigen, aber die schlaffen Finger bebten ein bisschen. »Ich kann den Schmerz innerhalb gewisser Grenzen halten. Zwar spüre ich ihn -« Micon lächelte erschöpft »-, aber mein Ich vermag sich von ihm zu trennen - bis ich ermüde. Auf die gleiche Weise halte ich den Tod von mir fern.«
Die Ruhe des Atlanters ließ Rajasta erschauern. Die Hände in den Seinen zuckten - Micon wollte sie ihm entziehen. »Lass sie mir«, bat Rajasta. »Ich kann dir einige Erleichterung verschaffen. Warum weist du meine Kraft zurück?«
»Ich komme schon zurecht.« Die Linien um Micons Mund verschärften sich für einen Augenblick, dann entspannten sich seine Züge wieder. »Verzeih mir, Bruder. Aber ich stamme aus Ahtarrath. Ich habe meine Pflicht noch nicht erfüllt. Bis jetzt habe ich noch nicht das Recht zu sterben - denn ich habe keinen Sohn.« Als er nach einer kurzen Pause fortfuhr, klang es, als wiederhole er mit seinen
Weitere Kostenlose Bücher