RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
VORWORT
In gleichmässigem Tempo fahre ich an einem Samstagmorgen im Januar hinauf in die Berge North Carolinas, um eine Frau zu treffen, die ich erst zweimal gesprochen habe – Rena. Als wir uns das erste Mal am Telefon sprachen, kochte ich gerade Piroggen und Kielbasa zum Abendessen.
„Kommen Sie aus Polen?“, fragte sie aufgeregt.
„Nein“, erklärte ich ihr, „ich mag nur gern Piroggen. Wir essen sie immer an einem Imbissstand namens Kiew, an der Lower East Side in New York.“
„Ich glaube, da würde es mir gefallen.“
Ich lachte. „Das glaube ich auch.“
Renas Haus liegt in einem kleinen Tal mit einer Weide voll grasender Kühe dahinter. Wie eine Klammer am Horizont schliessen uns die sich üppig vorwärtsschiebenden Hügel der Blue Ridge Mountains ein. Bevor ich aus dem Wagen steige, versuche ich, meine Gedanken und meine Büchertasche zu ordnen. Es ist ein wunderbarer Tag. Die Luft hier oben ist kühler, aber die Sonne scheint, und wenn der Wind auch nach Winter riecht, hat er doch nichts von dessen Unbarmherzigkeit.
Drinnen werde ich von John warmherzig empfangen. Wir ge ben uns d ie Hand, und er ruft Rena.
„Sie sind ja so gross!“ Sie lächelt, als wir uns zum ersten Mal begrüssen.
„Bin ich das wirklich?“ Ich muss lachen. „In unserer Familie bin ich die Kleine.“
„Und ich in meiner die Grosse.“ Ihre Augen blitzen.
„Kommen Sie, Heather, und schauen Sie sich Renas Wäscheschränke an!“ John gibt mir ein Zeichen.
„Nicht, Jan!“ Sie tadelt ihn auf Holländisch, fügt dann aber glücklicherweise auf Englisch hinzu: „Du bringst mich in Verlegenheit.“
„Du hast den ganzen gestrigen Tag damit zugebracht, sie in Ordnung zu bringen, lass doch Heather jetzt wenigstens sehen, wie hart du gearbeitet hast. Wie sonst soll sie es wissen?“
„Das stimmt nicht“, sagt sie leise. „Die sind immer so ordentlich.“ Als sie mir ihre wunderschöne Wäsche zeigt, die sie schon seit Jahren sammelt, sagt sie ruhig: „Von meiner Familie hatte ich keine Wäsche oder irgendwelche Erbstücke. Deshalb habe ich sie selbst für mich zusammengetragen. Bis drei Uhr morgens bin ich aufgeblieben, um einen Fleck herauszuschrubben, den andere als aussichtslost aufgegeben hatten.“
„Da haben wir’s. Jetzt weiss Heather, wie ordentlich und sauber du bist. Werden Sie auch Ihre Wäscheschränke aufräumen, wenn wir zu Besuch kommen?“, frozzelt John.
„Ich habe keine Wäscheschränke.“ Ich lachte wieder. „Sie können froh sein, wenn ich Staub wische.“
Rena nimmt meinen Arm. „Unterstehen Sie sich bloss, für mich sauberzumachen! Ich mache zu viel sauber. Wenn ich unruhig bin, kann ich nicht damit aufhören.“
Im Untergeschoss, wo wir viele Stunden des kommenden Jahres damit zubringen werden, die klammernden Geister der Vergangenheit auszugraben, flackert ein Gasofen. Die rosafarbenen Gardinen vor den Fenstern tauchen das Zimmer in rosiges Licht.
Vom rosa Zimmer mit seinem Ofen werde ich in einen Nebenraum geführt, in dem die Familienfotos aufgestellt sind. Die Wand ist in zwei Bereiche unterteilt: links die Gelissen-Familie aus Holland; rechts die Kornreich-Familie aus Polen. In der Mitte hängen Renas und Johns Hochzeitsfoto und Bilder ihrer Kinder.
Rena berichtet mir, dass sie keine Vorkriegsbilder hätte, wenn nicht ihre Schwester Gertrude schon vor dem Krieg nach Amerika ausgewandert wäre. Sie zeigt mir dann das Hochzeitsfoto ihrer Mutter. Ein viktorianisch hochgeschlossener Spitzenkragen verhüllt ihren Hals, und sie trägt eine so anmutige Hochsteckfrisur, dass es gar nicht nach Perücke aussieht.
„Wie hiess sie?“, frage ich.
„Sara.“ Rena drückt einen Kuss auf ihre Hand und berührt das Gesicht auf dem Foto.
„Wissen Sie, als ich hierher zog, dachte ich mir, ich habe meine Nummer entfernen lassen, keiner kennt mich, ich kann alles hinter mir lassen. Und da habe ich beschlossen, nie wieder darüber zu reden. Es lohnt sich nicht.“
„Warum erzählten Sie es Corinne?“, will ich von ihr wissen, indem ich sie auf unsere gemeinsame Freundin anspreche.
„Ich weiss es nicht!“ Sie lacht. „Das war schon sehr seltsam.“ Ihre Augen werden gross, als sie die Geschichte erzählt, die zu dieser Begegnung geführt hat.
„Ich hatte die falsche Nummer gewählt, aber die Stimme am anderen Ende der Leitung hörte sich vertraut an. ‚Ist das Corinne vom Tennisklub?‘, sage ich. ‚Bist du Rena?‘, fragt sie.“
Rena ahmt die Stimmen nach, führt das
Weitere Kostenlose Bücher