Das Licht Von Atlantis
Außerdem hatten sie es nie zuvor gewagt, eine so hochstehende Persönlichkeit zu ihrem Opfer zu machen. Jetzt, da Rajasta erfuhr, was Micon widerfahren war, begann eine neue Runde in dem Krieg, der so alt war wie der Tempel des Lichts.
Der Gedanke daran quälte den Priester.
In der Skriptoren-Schule war Mutter Lydara dabei, eine ihrer jüngsten Schülerinnen zur Ordnung zu rufen. Die Skriptoren waren die Söhne und Töchter der Priesterkaste, die in ihrem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr Talent für das Lesen oder Schreiben zeigten, und an die dreißig intelligente Jungen und Mädchen sind nicht leicht in Zucht zu halten.
Mutter Lydara dachte bei sich, sie könne sich an kein Kind erinnern, das soviel Schwierigkeiten gemacht habe wie das missmutige kleine Mädchen, das ihr gerade gegenüberstand: ein dünnes Kind mit eckigen Bewegungen, etwa dreizehn Jahre alt, mit Haaren, die in wirre schwarze Locken aufgelöst waren, und leidenschaftlichen Augen. Die Kleine hielt sich sehr steif und gerade, die nervösen Händchen entschlossen geballt; das weiße Gesicht verriet wilden Trotz.
»Deoris, Töchterchen«, mahnte die Skriptoren-Mutter, die felsengleich und geduldig vor ihr stand. »Wenn du hoffen willst, jemals auf den höheren Ebenen zu dienen, musst du es lernen, sowohl deine Zunge als auch dein Temperament zu beherrschen. Die Tochter Talkannons sollte für die anderen ein Beispiel sein. Du wirst dich jetzt bei mir und bei deiner Spielgefährtin Ista entschuldigen, und dann wirst du die Sache deinem Vater melden.« Die alte Priesterin wartete, die Arme vor der fülligen Brust verschränkt, auf eine Entschuldigung, die nicht kam.
Statt dessen sprudelte das Mädchen mit tränenerstickter Stimme hervor: »Ich will nicht! Ich habe nichts Böses getan, Mutter, und ich werde mich für nichts entschuldigen!«
Sie hatte eine klingende, zu Herzen gehende Stimme. Schon jetzt war es klar, dass Deoris unter allen Kindern des Tempels als zukünftige Zaubersängerin ausgewählt werden würde. Sie bebte am ganzen Körper vor Leidenschaft wie die klingende Saite einer Harfe.
Die Skriptoren-Mutter betrachtete sie verblüfft, aber ihre Geduld schien zu Ende zu sein. »Das ist nicht die richtige Art, mit einer Erwachsenen zu sprechen, mein Kind. Gehorche mir, Deoris.«
»Ich will nicht!«
Die alte Frau hob die Hand, sich selbst nicht sicher, ob sie das Mädchen beschwichtigend streicheln oder ohrfeigen sollte. Da klopfte es an die Tür. »Wer ist da?« rief die Priesterin gereizt.
Die Tür schwang auf, und Domaris steckte den Kopf herein. »Hast du einen Moment Zeit, Mutter? Wir brauchen für einen Gast einen Skriptor zum Vorlesen.«
Mutter Lydaras besorgtes Gesicht entspannte sich, denn Domaris war viele Jahre lang ihr Liebling gewesen. »Komm nur, mein Kind - für dich habe ich immer Zeit.«
Domaris blieb auf der Schwelle stehen, die Augen auf das wütende Gesicht des kleinen Mädchens im Skriptorenkittel gerichtet.
»Domaris, ich habe nichts getan! « jammerte Deoris. Wie ein verlorener kleiner Wirbelsturm lief sie auf Domaris zu und warf ihrer Schwester die Arme um den Hals. »Ich habe überhaupt nichts getan!« schluchzte sie hysterisch.
»Deoris - Schwesterchen!« schalt Domaris und löste mit fester Hand die sie umklammernden Arme. »Vergib ihr, Mutter Lydara - hat es wieder Schwierigkeiten mit ihr gegeben? Nein sei still, Deoris; dich habe ich nicht gefragt.«
»Sie ist frech und unverschämt, sie lässt sich nichts sagen und man wird einfach nicht mit ihr fertig«, erklärte Mutter Lydara. »In der Schule gibt sie ein schlechtes Beispiel, und im Schlafsaal treibt sie Unfug. Es widerstrebt mir, sie zu bestrafen, aber -«
»Mit Strafen erreichst du bei Deoris gar nichts, es wird allenfalls schlimmer«, sagte Domaris ruhig. »Man sollte nicht streng zu ihr sein.« Sie zog Deoris an sich und glättete die wirren Locken. Sie selbst verstand sich gut darauf, Deoris durch Liebe und Güte zu leiten, und sie nahm Mutter Lydara ihre Härte übel.
Die Skriptoren-Mutter war nicht gewillt, von ihren Prinzipien abzurücken. »Solange Deoris in der Skriptoren-Schule ist, wird sie so behandelt, wie alle anderen auch. Das heißt also, dass sie auch so bestraft wird wie alle anderen. Und falls sie sich nicht etwas Mühe gibt, sich so zu benehmen, wie die anderen, dann wird sie nicht lange in dieser Schule bleiben.«
Domaris hob die Brauen. »Ich verstehe... Ich war gerade bei Rajasta. Er braucht einen Skriptor zum
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