Das Licht von Shambala
dabei den Tod gefunden, genau wie Ptolemaios und jeder andere, der das Wasser des Lebens getrunken hatte, ohne vom Schicksal dazu bestimmt zu sein. Und ihre Behauptung, ein Mädchen in sich zu tragen - war auch das nur Teil ihres Wahns gewesen, oder hatte sie sich damit vor du Gard schützen wollen? Schon als sich die Gräfin sterbend am Boden wand, hatte Sarah keinen Hass mehr für sie empfunden. Vielleicht würde sie ihr irgendwann auch vergeben können, was sie Kamal und ihr angetan hatte.
»Und du Gard?«, erkundigte sich Ufuk, der zusammen mit ihnen in der Versammlungshalle des Klosters saß, wo sie ein Frühstück einnahmem, um sich für die Reise zu stärken. »Kaum zu glauben, dass es der Vater unseres geschätzten Freundes gewesen ist, der hinter allem stand. Und dass dieser es wohl die ganze Zeit über geahnt hatte.«
»Ja«, stimmte Sarah zu, »unglaublich, in der Tat. Aber auch schicksalhaft. Vielleicht hatte Lemont du Gard nach allem, was ihm widerfahren war, gar keine andere Wahl, als das zu werden, wozu er sich schließlich entwickelte.«
»Er war verblendet«, fügte Kamal hinzu. »Er dachte tatsächlich, in seinen Adern fließe das Blut der Ersten. Dabei haben sie sich nie mit den Menschen vermischt, sondern ihr Wissen stets nur vom Körper gelöst weitergegeben. Das ist der Grund dafür, weshalb es bis in unsere Zeit überdauert hat.«
»Dann hat er sich selbst getäuscht?«
»Gewissermaßen. Du Gard hat das geglaubt, was ihm gewinnbringend erschien. Vieles, was er im Lauf der Zeit herausgefunden hat, entsprach der Wahrheit, aber er hat die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Nicht das Blut eines Menschen entscheidet darüber, ob das Wasser des Lebens ihm schadet oder nicht, sondern die Reife seines Bewusstseins, der Grad seiner Erkenntnis. Den Ersten und ihren Nachfolgern konnte es deshalb nichts anhaben.«
»Vielleicht«, meinte Hingis, der sich von seiner Verwundung erholt hatte, den Arm jedoch noch in einer Schlinge trug, »war die Xenosophie ein Irrweg. Du Gard hätte weniger wissenschaftlich an die Sache herangehen, sondern versuchen sollen, mit dem Herzen zu begreifen.«
»Und das aus deinem Munde«, wunderte sich Sarah.
»Tchal-lo 53 , Bruder Yngis«, lobte Abt Ston-Pa, der es trotz der vielen Gespräche, die sie in den letzten Tagen geführt hatten, nicht geschafft hatte, den Namen des Schweizers richtig auszusprechen. »Ich sehe Hoffnung für dich.«
»Wie auch immer«, meinte Kamal, »die geheiligten Hallen wird niemand mehr betreten. Die Büchse der Pandora, wie die Sage sie beschreibt, wurde zerstört. Die Menschheit wird selbst entscheiden müssen, wohin sie ihre Schritte lenkt, und das ist gut so.«
»Ich hoffe es«, flüsterte Sarah schaudernd. Noch immer dachte sie an du Gards Voraussagen, an die Kriege der Zukunft, und hin und wieder ertappte sie sich dabei, dass sie sich fragte, ob es dem Wohl der Menschheit vielleicht doch dienlicher gewesen wäre, die Weltenmaschine zu benutzen, statt sie zu zerstören. Sobald sie jedoch an die Bruderschaft dachte und an das, was alleine schon die Aussicht auf unbeschränkte Macht bewirkt hatte, war sie sich sicher, dass die Dinge den rechten Gang genommen hatten.
Die Menschen waren selbst für ihre Zukunft verantwortlich, so wie die Ersten es gewollt hatten. Sarah hatte die Aufgabe erfüllt, die die Vergangenheit ihr auferlegt hatte, ebenso wie Kamal. Beide hatten ihre Pflicht getan, nun waren sie frei und konnten das Leben führen, von dem sie stets geträumt hatten.
»Und du bist sicher, dass du nicht mit uns kommen willst?«, wandte sich Sarah an Ufuk.
»Evet«, bekräftigte der Junge, »denn wir haben hier eine neue Heimat gefunden. Abt Ston-Pa hat angeboten, uns in die Gemeinschaft des Ordens aufzunehmen und in die fernöstliche Denkweise einzuführen. Und wir werden ihn im Gegenzug am Wissen vergangener Jahrhunderte teilhaben lassen.«
»Ich verstehe.« Sarah wusste, dass Meister Ammon sich immer gewünscht hatte, sein Leben in einem Hort der Weisheit zu verbringen. Ganz offenbar hatte er ihn gefunden.
Ein letztes Mal hob sie das Ahornschälchen und trank den Buttertee aus, den einer der Diener des Abts für sie zubereitet hatte. Dann erhob sie sich, und gemeinsam mit Kamal und Friedrich Hingis wandte sie sich zum Gehen.
»Dán-po gyalo!«, rief Ufuk mit einer Freude, aus der sowohl die Unbekümmertheit der Jugend als auch die Weisheit des Alters sprach.
»Lah gyalo!«, antwortete Sarah mit der ursprünglichen Formel und
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