Das Licht von Shambala
hatte das Rätsel sie begleitet. Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie fast jede Nacht von jenen Schatten geträumt, war schweißgebadet erwacht und hatte bei ihrem Vater Gardiner Schutz gesucht. Später dann, als sie eine junge Frau wurde, waren die Träume seltener geworden, und schließlich hatte Sarah sie fast vergessen.
Bis sie zurückgekehrt waren ...
Seit dem Tag, da Gardiner Kincaid in den Katakomben der versunkenen Bibliothek von Alexandria gestorben war, hinterrücks ermordet von Verräterhand, waren die Träume wieder da - dunkler, erschreckender und bedrohlicher als je zuvor. Noch vor einiger Zeit hatte Sarah geglaubt, dass dies mit dem Tod Gardiner Kincaids zusammenhinge, dass der Schock über sein gewaltsames Ableben die Ängste ihrer Kindheit wieder ans Licht gebracht hätte.
Inzwischen wusste sie es jedoch besser.
Denn was Sarah in ihren Träumen sah, waren keine Trugbilder. Es waren Spiegelungen der Vergangenheit, ihrer Vergangenheit, die aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden war, als sie im Alter von acht Jahren das aqua vitae zu sich genommen hatte, das Wasser des Lebens. Alles, was sie davor gesehen und erlebt hatte, die ersten acht Jahre ihres Daseins, waren wie ausgelöscht. Nur jene verschwommenen Eindrücke waren geblieben, die sie wieder und wieder vor Augen sah, jede Nacht - und das Wissen, dass es kein anderer als Gardiner Kincaid gewesen war, der ihr jenen Trunk verabreicht hatte.
Tempora atra hatte er die Zeit genannt, die vor jenen Tagen lag, vor dem Fieber und der totenähnlichen Starre, in die Sarah damals verfallen war und aus der sie nur die erneute Einnahme des Lebenswassers hatte retten können.
Die Dunkelzeit ...
Wie sehr wünschte sich Sarah, die Hand auszustrecken, um jenen Schleier des Vergessens zu zerreißen und zu sehen, was sich dahinter verbarg! Nur ein einziges Mal war es ihr gelungen, und auch nur für einen kurzen Augenblick - aber das Bild einer fernen, von verschneiten Gipfeln umgebenen Festung ergab keinen Sinn. Sarah dürstete danach, mehr zu erfahren, denn es stand längst außer Frage, dass ein Zusammenhang bestand zwischen der Dunkelzeit und dem, was ihrem Geliebten Kamal widerfahren war.
Auch ihm war das Wasser des Lebens eingeflößt worden, auch er war in jenem Niemandsland zwischen Leben und Tod gefangen gewesen. Vom fernen England aus war Sarah aufgebrochen, um ihren Geliebten den Klauen des Jenseits zu entreißen. Von Prag aus hatte ihre Reise sie über den Balkan nach Griechenland geführt, wo sie auf den Spuren Alexanders des Großen gewandelt war und den Totenfluss Styx gesucht hatte. Das Wasser des Lebens hatte sie gefunden, alles andere jedoch, das je von Bedeutung für sie gewesen war, hatte sie dabei eingebüßt.
Zuerst hatte sie ihren Vater verloren - in mehr als einer Hinsicht. Der Mann, der ihn in den Katakomben von Alexandrien hinterrücks ermordet hatte, hatte nämlich später auch noch die Behauptung aufgestellt, Gardiner Kincaid wäre nicht Sarahs leiblicher Vater gewesen. Nun hatte Sarah gewiss keinen Anlass, Mortimer Laydon Glauben zu schenken, der sich sowohl ihr Vertrauen als auch das ihres Vaters erschlichen und sich in Wahrheit als Agent der Gegenseite erwiesen hatte. Aber etwas tief in ihrem Innern sagte ihr, dass Laydon zumindest in dieser einen Hinsicht nicht gelogen hatte, und sie ahnte, dass auch die Antwort auf dieses Rätsel in der Dunkelzeit verborgen lag.
Der nächste Verlust, den Sarah erlitt, hatte ihren treuen Freund Maurice du Gard betroffen. Nicht nur seine hellseherische Gabe war ihr auf ihren Reisen von Vorteil gewesen, sondern auch sein freundschaftlicher Rat und seine Unterstützung, und als er in ihren Armen starb, war es Sarah vorgekommen, als würde ein Teil von ihr mit ihm gehen.
Was ihr danach noch geblieben war, Sarahs weltlicher Besitz, der sich im Wesentlichen aus dem ländlichen Anwesen in Yorkshire sowie aus der umfassenden Bibliothek zusammensetzte, die Gardiner Kincaid ihr hinterlassen hatte, war ihr ebenfalls genommen worden. Ein verheerendes Feuer hatte in Kincaid Manor gewütet und den Hausverwalter das Leben gekostet - ein Feuer freilich, das nicht von einer Laune des Schicksals, sondern von der Hand ruchloser Brandstifter gelegt worden war, damit Sarah in England keine Zufluchtsstätte mehr haben sollte.
Verzweifelt darum bemüht, nicht auch noch ihren geliebten Kamal zu verlieren, hatte Sarah alles darangesetzt, das Wasser des Lebens zu beschaffen, das sein rätselhaftes
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