Das Lied der alten Steine
Kammer wider. »Der geweihte Trank aus den eigenen Tränen der Göttin muss von Rechts wegen ihr gehören. Sie allein heilte den zerstörten Leib von Osiris und sie allein kann den zerstörten Leib des Pharaos erneuern.«
»Er gehört dem Pharao!« Anhotep entfernte sich vom Altar.
Sein Gegner folgte ihm, und in diesem Augenblick zerschnitt der reinigende Sonnenstrahl wie ein Messer die Dunkelheit, traf die Kristalloberfläche des Tranks und verwandelte sie in glänzendes Gold. Einen Moment lang starrten beide Männer darauf, abgelenkt von der Macht, die dem Kelch entstieg.
»Also«, wisperte Anhotep. »Es ist geschehen. Das Geheimnis des ewigen Lebens ist unser.«
»Das Geheimnis des ewigen Lebens gehört Isis.« Hatsek hob das Schwert. »Und es wird ihres bleiben, mein Freund.« Er holte aus, stieß das Schwert in Anhoteps Brust und zog es ächzend wieder heraus, als dieser in die Knie sank. Einen Moment lang zögerte er, als bedaure er seine übereilte Tat, dann hob er die blutige Schneide über den Altar und schleuderte mit einer einzigen weit ausholenden Bewegung den Kelch mit dem geweihten Trank zu Boden.
»Für dich, Isis, vollbringe ich dies.« Er legte das Schwert auf den Altar und hob die Hände. Noch einmal hallte seine Stimme durch den Raum. »Niemand als du, große Göttin, kennt die Geheimnisse des Lebens und diese Geheimnisse sollen dein sein für ewig!«
Hinter ihm gelang es dem knienden Anhotep irgendwie, sich aufzurichten, die blutigen Hände auf die Brust gepresst.
Während sich sein Augenlicht schon trübte, tastete er halb blind nach dem Schwert, das über ihm auf dem Stein lag. Er fand es, zerrte sich schmerzhaft auf die Füße und hob es mit beiden Händen. Hatsek, der ihm den Rücken zudrehte und beobachtete, wie die Sonnenscheibe aus dem Ausschnitt des Eingangs glitt, konnte ihn nicht sehen. Die Schwertspitze schnitt ihm zwischen die Schulterblätter und drang durch die Lunge in sein Herz. Er war tot, bevor seine gekrümmte Gestalt vor die Füße des anderen Mannes kippte.
Anhotep blickte hinab. Am Fuße des Altars lag der geweihte Trank in einer kühlen blaugrünen Lache, verunreinigt von dem gerinnenden Blut zweier Männer. Anhotep starrte sie einen Augenblick lang an und sah sich dann verzweifelt um. Dann taumelte er, mühsam nach Atem ringend, zu einem Bord im Schatten eines Pfeilers. Dort stand das Salbgefäß, die kleine verzierte Glasphiole, in der er den konzentrierten Trank in das Allerheiligste gebracht hatte. Er streckte seine blutige Hand danach aus und ging dann wieder zum Altar. Dort fiel er unter Schmerzen auf die Knie, doch obwohl der Schweiß seine Sicht noch verschlechterte, gelang es ihm, ein wenig von der Flüssigkeit in die winzige Flasche zurückzuschöpfen. Mit zitternden Fingern presste er den Stöpsel so fest wie möglich darauf, wobei er das Glas über und über mit Blut beschmierte.
Mit letzter unbeschreiblicher Mühe riss er sich hoch und stellte die Phiole auf das Bord, ganz hinten in die Dunkelheit zwischen Pfeiler und Wand, dann drehte er sich um und schleppte sich ins Licht.
Als man ihn schließlich auf der Schwelle zum Allerheiligsten hegend fand, war er schon mehrere Stunden tot.
Während die Leichname der beiden Priester gewaschen und einbalsamiert wurden, erklangen Gebete für ihre Seelen, die ihnen auferlegten, in der nächsten Welt der Herrin des Lebens zu dienen, da sie es in dieser versäumt hatten.
Der Hohepriester befahl, die beiden Mumien im Allerheiligsten zu beiden Seiten des Altars aufzubahren und es dann für ewig zu versiegeln.
1
Möge nichts gegen mich sprechen,
wenn ich gerichtet werde;
möge keiner sich gegen mich stellen;
möge man uns nicht trennen,
wenn wir ihm gegenüberstehen,
der die Waage hält.
Es ist dreizehnhundert Jahre vor Christi Geburt. Nach der Einbalsamierung werden die Mumien der Priester zurück in den Felsentempel gebracht, wo sie einst ihren Göttern dienten, und in dem Dämmer, wo sie starben, zur Ruhe gebettet. Für einen Augenblick dringt ein Sonnenfleck in das innere Heiligtum, dann wird der letzte Lehmziegel vor den Eingang gesetzt, das Liebt verschwindet und der Tempel, der jetzt ein Grab ist, liegt sofort im Dunkel. Wären Ohren da zu hören, so würden sie einige wenige gedämpfte Geräusche wahrnehmen: Der Verputz wird geglättet und die Siegel werden aufgedrückt. Dann herrscht Grabesstille.
Der Schlaf der Toten wird nicht gestört. Die Öle und Harze im Fleisch beginnen zu wirken. Die
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