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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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Verwesung wird aufgehalten.
    Die Seelen der Priester verlassen ihre irdischen Körper und

    suchen das Gericht der Götter auf. Dort im Saal jenseits der Tore des westlichen Horizonts hält Anubis, der Totengott, die Waage, die ihr Schicksal entscheiden wird. In der einen Schale liegt die Feder von Maat, der Göttin der Wahrheit. Auf die andere wird das Herz des Menschen gelegt.

    »Was du brauchst, mein Kind, ist Urlaub!«
    Phyllis Shelley war eine kleine, drahtige Frau mit einem energischen, kantigen Gesicht, das von ihrer eckigen, rot gerahmten Brille noch betont wurde. Mit ihrem modischen Kurzhaarschnitt sah sie zwanzig Jahre jünger aus als die achtundachtzig, die sie nur ungern zugab.
    Sie steuerte mit dem Teetablett auf die Küchentür zu und überließ es Anna, mit dem Teekessel und einem Teller Gebäck zu folgen.
    »Du hast natürlich Recht.« Anna lächelte liebevoll. Während ihre Großtante hinaus auf die Terrasse strebte, blieb Anna einige Sekunden im Flur stehen und betrachtete ihr müdes, mageres Gesicht in dem fleckigen goldgerahmten Spiegel. Ihr dunkles Haar war mit einem bunten Schal zurückgebunden, der die graugrünen Farbtupfer in ihren braunen Augen hervorhob. Sie war schlank, groß gewachsen, ebenmäßig gebaut, eine klassische Schönheit, ihr Körper war immer noch straff und anziehend, aber zu beiden Seiten ihres Mundes verliefen jetzt feine Linien und die Krähenfüße um ihre Augen waren tiefer, als sie bei einer Frau Mitte dreißig sein sollten. Sie seufzte und verzog das Gesicht. Sie hatte gut daran getan, herzukommen.
    Sie hatte eine starke Dosis Phyllis bitter nötig!

    Mit der einzigen noch lebenden Tante ihres Vaters Tee zu trinken, war eine der großen Freuden im Leben. Die alte Dame war im Herzen unverwüstlich jung geblieben, willensstark –
    unbezähmbar war das Wort, mit dem die Leute sie immer beschrieben -, klar denkend, und sie hatte einen wunderbaren Humor. In ihrem gegenwärtigen Zustand, unglücklich, einsam und deprimiert, drei Monate nach dem endgültigen Urteilsspruch, brauchte Anna eine Infusion all dieser Eigenschaften und noch einige mehr. In der Tat, sagte sie sich selbst mit einem Lächeln, als sie sich umwandte, um Phyllis auf die Terrasse hinaus zu folgen, fehlte ihr wahrscheinlich nichts, was Tee und Kuchen und offenherzige Gespräche im Lavenham-Cottage nicht kurieren könnten.
    Es war ein herrlicher Herbsttag, die Blätter schimmerten in hellen Gold-und Kupfertönen, die Beeren in den Hecken leuchteten scharlachrot und schwarz, die Luft duftete nach Holzfeuern und dem sanften Nachhall des Sommers.
    »Du siehst gut aus, Phyl.« Anna lächelte über den kleinen runden Tisch.
    Phyllis quittierte Annas Bemerkung mit einem Schnauben und einer hochgezogenen Augenbraue. »Wenn man bedenkt, wie alt ich bin, meinst du. Danke, Anna! Es geht mir gut, was man von dir nicht gerade behaupten kann, mein Schatz. Du siehst entsetzlich aus, wenn ich das sagen darf.«
    Anna zuckte bedauernd die Achseln. »Ich habe ein paar schreckliche Monate hinter mir.«
    »Natürlich. Aber es hat keinen Sinn, zurückzublicken.« Phyllis kam ohne Umschweife zur Sache. »Was willst du jetzt mit deinem Leben anfangen, wo du allein darüber bestimmen kannst?«
    Anna zuckte die Achseln. »Arbeit suchen, nehme ich an.«
    Einen Moment herrschte Stille, während Phyllis Tee einschenkte. Sie reichte eine der beiden Tassen hinüber und danach »selbstgebackenes« Teegebäck und ein Schälchen Pflaumenmarmelade, beides aus der Lebensmittelecke des örtlichen Gartengeschäfts. Phyllis Shelley hatte in ihrem vielbeschäftigten Leben keine Zeit zum Kochen und Stricken, wie sie immer wieder allen Leuten erklärte, die die Dreistigkeit besaßen, sie um Beiträge aus einem dieser Gebiete für das Kirchenfest oder ähnliche Wohltätigkeitsveranstaltungen zu bitten.
    »Dem Leben, Anna, muss man sich stellen. Man muss es erleben«, sagte sie langsam und leckte die Marmelade von ihren Fingern. »Vielleicht entwickelt es sich nicht so, wie wir es geplant oder gehofft haben. Es ist vielleicht nicht immer angenehm, aber es sollte immer aufregend sein.« Ihre Augen blitzten. »Du klingst nicht, als hättest du etwas Aufregendes vor.«
    Anna lachte gegen ihren Willen. »Im Moment hat sich wohl alles Aufregende aus meinem Leben davongestohlen.«
    Wenn es je vorhanden gewesen war. Es folgte ein langes Schweigen. Sie schaute durch den schmalen Cottage-Garten zur Steinmauer. Dort lag Phyllis’ Katze Jolly und schlief mit

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