Lena Christ - die Glueckssucherin
Prolog
Kein Tag zum Sterben
Nichts ist, wie es je war. War wahrscheinlich nicht mal so, als es noch war, wie es war.
Richard Powers
Zu Allerseelen 2011 machte ich mich in aller Frühe auf den Weg zum Waldfriedhof, um Lena Christs Grab zu besuchen. Es war nicht mein erster Besuch bei ihr. Ich war schon einmal dort gewesen – lange bevor ich den Plan fasste, ein Buch über sie zu schreiben. Damals allerdings eher zufällig. Der riesige Friedhof im Münchner Westen, der vor etwas mehr als hundert Jahren großzügig als Park im Hochwaldforst des Schlosses Fürstenried angelegt wurde, lockte zum Spaziergang. Ich ließ mich treiben und blieb dann und wann an einem bekannten Namen hängen: Heidi Brühl, Barbie Henneberger – Schauspielerin, Skiläuferin – Idole meiner Kindheit, alle jung gestorben. Genau wie der legendäre Opernsänger Fritz Wunderlich und die Schriftstellerin Lena Christ. Auch an Frank Wedekinds Grabstätte mit dem auf einer Kugel balancierenden Pegasus kam ich damals vorbei. Ein Zeitgenosse Lena Christs, den sie jedoch nicht kannte, denn die Schwabinger Boheme war kein Platz für sie gewesen.
Diesmal steuerte ich gezielt Lena Christs Grabstelle an. Ich wollte schon früh dort sein, um nicht zu vielen Menschen zu begegnen. Der Brauch, die Toten an einem bestimmten Tag im Jahr zu besuchen, ist für mich fremd und tröstlich zugleich – wie viele andere Rituale auch, die den Überlebenden Halt und Orientierung geben. Ich vermutete viele Menschen in der Umgebung des Grabes und war dann überrascht, dort ganz allein zu sein. Während ich mich noch darüber wunderte und meinen Blick über die Tafel mit den Lebensdaten schweifen ließ, glaubte ich plötzlich meinen Augen nicht zu trauen: Das Todesdatum war falsch! 31.6.20 lautete die Inschrift auf dem Holzkreuz – ein Datum, das es gar nicht gab. Ein Tag, den es gar nicht gab. Denn der Juni hat bekanntlich nur dreißig Tage. Wie konnte das geschehen? Und vor allem: Seit wann stand die falsche Zahl dort?
1 Grabstätte auf dem Münchner Waldfriedhof: Lena Christ, ihre jüngste Tochter, ihr Halbbruder und dessen Ehefrau
Ich erinnerte mich, dass ich auch bei meinem letzten Besuch einige Jahre zuvor Fotos gemacht hatte und dass sich in einigen Büchern über Lena Christ Abbildungen ihres Grabes befanden. Auf einmal konnte ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und nachzuschauen, brach also meinen Allerseelenbesuch abrupt ab und machte mich auf den Heimweg. Zuerst fand ich das Bild, das ich vor fünf Jahren fotografiert hatte: 31.6.20 war darauf zu lesen. Wieso war es mir nicht schon damals aufgefallen? Dann durchsuchte ich die Bücher verschiedener Autoren über Lena Christ, die 2011, 2004 und 1981 erschienen waren, und fand immer dieselbe Zahl: 31.6.20. Hatte das jahrzehntelang niemand gemerkt? Weder ihre Nachkommen noch Menschen, die über sie geschrieben und ihr Grab fotografiert hatten? Schließlich war der Waldfriedhof ein bedeutungsschwerer und symbolträchtiger Ort für Lena Christ: nicht nur ihre letzte Ruhestätte, sondern jener Platz, an dem sie ihrem Leben ein Ende setzte.
Während ich die Grabbilder aus unterschiedlichen Zeiten miteinander verglich, kam mir Lena Christs Ankündigung in den Sinn, die ihr Ehemann Peter Jerusalem (Pseudonym Peter Benedix) in seinem Buch Der Weg der Lena Christ erwähnt. Er berichtet, sie habe vor ihrem Tod versichert, von dort, wo sie nun hingehe, Zeichen zu geben. Dieses Versprechen habe sie gehalten, wie auch ihre älteste Tochter bestätigt habe. Eine Begebenheit, der ich beim Lesen des Buches wenig Beachtung geschenkt hatte, die sich jedoch in diesem Augenblick deutlich in mein Bewusstsein drängte.
Was bedeutet es, wenn als Todesdatum an so exponierter Stelle ein Tag genannt wird, der nicht existierte, den es gar nicht gab? Eine erste Antwort fiel mir spontan ein: Hier gibt jemand keine Ruhe, fügt sich nicht, sondern begehrt auf. »Schau genau hin«, lautet die unmissverständliche Aufforderung. »Hinterfrage die vermeintlich präzisen Fakten. Sie könnten falsch sein.« Mit Fälschungen kannte sich Lena Christ aus. Es heißt, diese waren der Grund für ihren spektakulären Selbstmord mit Zyankali auf dem Waldfriedhof. In verzweifelter finanzieller Not hatte sie Gemälde unbekannter Maler, die sie auf Trödelmärkten erworben hatte, mit den Signaturen bedeutender Künstler wie Franz von Defregger und Franz von Stuck versehen und entsprechend dem Marktwert dieser Urheber verkauft. Eine Aktion, die
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