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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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begleiten.«
    »Mein Junge ist ganz allein«, wandte Susan ein. »Er ist erst zwei Jahre alt und …«
    In die Augen der Frau schossen Tränen, und Susan befürchtete, sie würde hier mitten auf der Straße zu weinen anfangen.
    »Bitte, lassen Sie mich jetzt nicht allein!«, flehte sie, griff in ihre Manteltasche und holte eine Münze hervor. »Hier, ich bezahle Sie auch für Ihre Zeit.«
    Unschlüssig betrachtete Susan die Münze. Einerseits wollte sie Jimmy nicht länger warten lassen, aber für das Geld, das die Frau ihr anbot, musste sie bei Carter beinahe eine ganze Woche arbeiten. Sie gab sich einen Ruck und murmelte: »Nun gut, aber ich habe nicht viel Zeit«, und steuerte dann die erste Droschke auf dem Platz an. Der Kutscher musterte die beiden Frauen kritisch, als sie einstiegen.
    »Wo soll’s denn hingehen?«, fragte er wenig freundlich, was Susan ihm nicht verdenken konnte. Sie beide boten einen wenig vertrauenswürdigen Anblick – völlig durchnässt, über und über mit Schlamm und Schmutz bespritzt und mit aufgelösten, wirren Haaren.
    Die Fremde nannte eine Adresse, die Susan unbekannt war, obwohl sie ihr ganzes Leben in London verbracht hatte. Der Kutscher pfiff durch die Zähne und zögerte. »Das ist aber ein Stück.« Es war eindeutig, dass er sich fragte, ob diese beiden abgerissenen Gestalten wohl in der Lage waren, die Fahrt zu bezahlen. Die Fremde verstand und nickte.
    »Keine Sorge, Sie werden Ihr Geld erhalten. Ich werde es sogar verdoppeln, wenn Sie so schnell wie möglich fahren. Auch als kleine Entschädigung, weil wir Ihre Polster beschmutzen.«
    Der skeptische Gesichtsausdruck blieb, aber dann setzte sich die Droschke endlich in Bewegung. Während sich die Frau mit geschlossenen Augen zurücklehnte, versuchte Susan, durch das Fenster etwas von der Umgebung zu erkennen. Der Nebel lichtete sich zwar nicht, die Straßen wurden jedoch breiter und waren von zahlreichen Laternen gesäumt, die die hohen Häuser in ein diffuses Licht tauchten. Sie befanden sich eindeutig in einer der besseren Gegenden Londons – ein Stadtviertel, in dem Susan nie zuvor gewesen war. Nach zwanzig Minuten hielt die Kutsche vor einem vierstöckigen Haus, zu dessen verzierter Eingangstür fünf von Säulen flankierte Stufen hinaufführten. Das Haus war eines von rund einem Dutzend ähnlicher Gebäude, die sich in einem Halbrund um einen großen Platz gruppierten. Susans erster Eindruck hatte sie nicht getrogen – wenn die Selbstmörderin hier wohnte, dann gehörte sie zur privilegierten Oberschicht, wenn nicht gar zum Adelsstand.
    Auch Reiche haben offenbar Sorgen, dachte Susan und musste gegen ihren Willen schmunzeln. In ihrem eigenen Leben hatte es bisher viele Situationen gegeben, in denen labilere Menschen als sie den Weg ins Wasser gewählt hätten. Gerade jetzt befand sie sich wieder in einer prekären Lage, aber Susan war es gewohnt, zu kämpfen. So einfach ließ sich eine Susan Hexton nicht unterkriegen, außerdem brauchte ihr Sohn sie. Sein Vater hatte ihn bereits verlassen, die Mutter würde er nicht auch noch verlieren, wenngleich Susans derzeitige Situation alles andere als rosig war und sie sich manchmal wünschte, einfach einzuschlafen und niemals wieder aufzuwachen.
    Beim Gedanken an Jimmy sagte Susan laut: »So, jetzt sind Sie zu Hause, und ich werde machen, dass ich ebenfalls heimkomme. Ihr Geld nehme ich gerne an, denn davon kann ich die Droschke bezahlen. Zu Fuß ist es nämlich ein ganz schönes Stück, das ich laufen müsste, und ich möchte mein Kind nicht noch länger warten lassen.«
    Susan hatte den Schlag der Kutsche bereits geöffnet, als sich die langen, schlanken Finger der Dame um ihr Handgelenk schlossen. Der Blick aus ihren dunkelbraunen Augen war ebenso flehend wie ihre Stimme.
    »Kommen Sie mit herein. Ihre Sachen sind nass, Sie werden sich noch erkälten. Ich lasse Ihnen ein Bad bereiten, eine heiße Tasse Tee und etwas zu essen.«
    So verlockend die Aussicht auf etwas Warmes – innerlich wie äußerlich – auch war, Susan schüttelte den Kopf.
    »Das geht nicht …«
    »Bitte! Ich brauche Sie jetzt. Sie sind doch meine Lebensretterin.«
    Susan gab sich einen Ruck und seufzte. »Nun gut, aber nur wenige Minuten. Nur so lange, bis ich sehe, dass Sie da drinnen in guten Händen sind, dann muss ich wirklich gehen.«
    Der Kutscher nannte seinen Lohn, und die Fremde händigte ihm, wie versprochen, die doppelte Anzahl von Münzen aus, die sie einer Geldbörse in ihrer

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