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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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musste sich mit Dingen und Situationen, die nun mal nicht zu ändern waren, abfinden. Hätte sie diese Fähigkeit nicht, wäre sie schon längst vor die Hunde gegangen. Susan seufzte, straffte die Schultern und bog auf den schmalen Fußweg an der Uferpromenade ein, der zur Brücke hinaufführte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch direkt vor sich. Es klang wie das Einreißen von Stoff, begleitet von einem Laut, der sich wie das Stöhnen eines Menschen anhörte. Während der letzten Meile war Susan niemandem begegnet, jedenfalls hatte sie niemanden gesehen, was bei dem dichten Nebel nicht verwunderlich war. Wer das Haus nicht verlassen musste, blieb in der warmen Stube am Kamin sitzen. Susan zögerte nicht, sie kannte keine Angst, denn Furcht war etwas, das sie sich nicht erlauben konnte, wollte sie in dem Sumpf, in dem sie steckte, überleben. Als Susan jedoch ganz deutlich hörte, wie etwas auf das Wasser der Themse aufschlug, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
    Geh einfach weiter
, rief eine Stimme in ihr, aber eine andere sagte, sie müsse nachsehen, was hier los war. Die zweite Stimme siegte, und so beugte sich Susan über den niedrigen Zaun, der den Uferweg von der Böschung trennte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Es schien, als würde unten im Fluss ein großes Bündel treiben. Dies war nichts Ungewöhnliches, denn die Menschen warfen regelmäßig ihren Abfall in die Themse, dennoch war Susan plötzlich voller Sorge. Sie war sicher, einen menschlichen Laut gehört zu haben. Was, wenn jemand ausgeglitten und in den Fluss gestürzt war?
    »Ach, zum Teufel«, fluchte Susan, raffte ihren Rock und kletterte über das Geländer. Sie dachte an Jimmy, der jetzt noch ein wenig länger auf seine Mama warten musste, aber sie konnte nicht einfach verschwinden und so tun, als hätte sie nichts bemerkt. Vielleicht war es wirklich nur ein Bündel Lumpen, das sie im eiskalten Wasser erspäht zu haben meinte. Dann würde sie sich eben nasse Füße holen und zusehen, dass sie nach Hause kam. Sollte jedoch wirklich ein Mensch in Not geraten sein, dann würde sie es sich nie verzeihen, einfach weitergegangen zu sein.
    Die Böschung war steil und glitschig, und Susan musste achtgeben, um nicht auszurutschen. Als die ersten leichten Wellen ihre Knöchel umspielten und sie vor Kälte nach Luft schnappte, erkannte sie den dunklen Fleck, der auf dem Wasser trieb. Es war tatsächlich ein Kleid, ein Frauenkleid, wie Susan entsetzt feststellte, und sie erkannte auch zwei Füße mit Schuhen, die unter dem Rock hervorragten. Dort trieb eindeutig eine Frau, die in großer Not war. Das Kleid sog sich rasend schnell mit Wasser voll, und die Person drohte binnen weniger Augenblicke zu versinken. Susan zögerte nicht lange, warf ihren Umhang auf den Boden und schlüpfte aus den Schuhen. Als kleines Kind hatte sie in einem der Teiche im Hyde Park schwimmen gelernt, und auch wenn sie seit Jahren in keinem Gewässer mehr gewesen war – so etwas verlernte man nie wieder. Susans Herzschlag drohte auszusetzen, als das eiskalte Wasser über ihr zusammenschlug, aber sie kam schnell wieder an die Oberfläche. Ihre Hände tasteten nach der Frau, die, regungslos auf dem Bauch liegend, nur einen Meter vor ihr im Wasser trieb. Sie musste sich beeilen, denn sonst würden ihre eigenen Kleider sie ebenfalls unweigerlich in die Tiefe ziehen. Zwar war hier in Ufernähe die Themse nicht tief, aber die Strömung zerrte an ihrem Rock, und Susan befürchtete, von ihr erfasst und abgetrieben zu werden. Endlich gelang es ihr, die Person an einem Arm zu packen, doch zu ihrem Entsetzen begann die Frau, ihre Hilfe abzuwehren und nach ihr zu schlagen.
    »Lassen Sie mich in Ruhe …«
    Susan meinte, sich verhört zu haben, die Abwehrbewegungen der Frau waren jedoch eindeutig.
    »Halten Sie still, ich hole Sie hier raus«, rief Susan, so laut sie konnte, und fügte noch ein »Hilfe! Zu Hilfe, ist denn niemand hier?« an.
    Plötzlich spürte sie Boden unter ihren Füßen, und sie bohrte diese fest in den schlammigen Untergrund des Flusses. Es gelang ihr, die Fremde an der Taille mit beiden Armen zu umklammern und näher an sich heranzuziehen. Obwohl Susan nur mittelgroß und sehr schlank war, steckte in ihrem zierlichen Körper mehr Kraft, als ein Betrachter vermutet hätte. Das Leben hatte Susan stark gemacht, und das nicht nur in körperlicher Hinsicht. In der Fleischerei schleppte sie sechs bis acht Stunden täglich Schweine-

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