Das Lied der roten Erde (German Edition)
Straße entlang nach Donnybrook, oder auch nach Ballsbridge. Aber es ging nicht. Nicht heute, am Tag ihrer Hochzeit. Und vielleicht nie mehr.
Ein Knoten ballte sich in ihrer Kehle. Sie biss die Zähne zusammen, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, und blickte hinüber zum umzäunten Gelände des Merrion Parks, den die hochherrschaftlichen Häuser der Reichen säumten. Von hier aus war es nicht weit bis ins Herz Dublins, obwohl Moiras Eltern auch für die kurze Strecke meist die Kutsche nahmen. Die unbefestigten Straßen verwandelten sich nach den häufigen Regengüssen in eine schlammige Masse, und der Vater schimpfte jedes Mal, wenn er sich nach einem Besuch bei seinen Kunden die Schuhe auskratzen lassen musste. Bis der Wagenschuppen errichtet worden war, hatte ihre Kutsche in den Stallungen hinter dem langgestreckten Garten an der Rückseite ihres Hauses gestanden, dort, wo Moira sich jetzt befand. Dahinter lag offenes Gelände. Hier war sie schon so manches Mal entlanggeritten, über Felder und saftiggrüne Wiesen bis zum Hafen von Irish Town, von wo aus sie den einlaufenden und abfahrenden Schiffen zuschauen konnte. Früher war sie oft mit ihrem Vater dort gewesen, doch seit England sich mit Frankreich im Krieg befand, war es fast unmöglich geworden, auf gesetzlichen Wegen an französischen Wein zu kommen. Philip Delaney musste immer mehr auf spanische und italienische Händler ausweichen, zu denen er längst nicht so gute Verbindungen hatte wie nach Frankreich. Was sich an französischem Burgunder noch in seinem Weinkeller befand, verkaufte er zu Höchstpreisen, doch der Vorrat schwand rapide.
Sie trat zurück in den Stall und drückte ihr Gesicht erneut in Dorchas’ dichtes Fell. Die Stute drehte den großen Kopf und legte ihn an Moiras Schulter. Jetzt kamen ihr doch die Tränen. Aber sie wollte nicht weinen. Jemand wie Moira weinte nicht.
»Das ist alles so ungerecht«, flüsterte sie. »Ich will hier nicht weg!«
Dorchas schnaubte, als würde sie verstehen.
»Ach, hier bist du.« Die Stimme ihrer Schwester riss Moira aus ihrem Kummer. Hastig richtete sie sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Mutter sucht dich.«
»Das kann ich mir denken«, murmelte Moira. »Sie kann mich wohl nicht schnell genug loswerden.« Sie vergrub ihre Hand in Dorchas’ dichter Mähne. »Ach, Ivy. Ich will das nicht! Ich will nicht seine Frau werden!«
Ivy blickte betreten zu Boden. »So schlimm finde ich Dr. McIntyre gar nicht.«
»Ach nein? Dann kannst du ihn ja heiraten! Kannst ihm seinen alten faltigen Hintern streicheln und ihn füttern, wenn er den Löffel nicht mehr halten kann!«
Ivy versuchte sichtbar, ein Grinsen zurückzuhalten. »Vater sagt –«
»Vater!« Moira spuckte das Wort aus, als enthalte es Galle. »Vater hat mich an ihn verkauft! Von Mutter hätte ich nichts anderes erwartet, aber Vater! Er gibt mich dem Erstbesten zur Frau, der um meine Hand anhält!«
Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen, aber sie blinzelte sie hastig fort. Vaters Verrat war am schlimmsten zu ertragen.
»Er meint es doch nur gut«, versuchte Ivy zu beschwichtigen. »Er sagt, Dr. McIntyre ist ein guter Arzt, und ein –«
»Dr. McIntyre ist ein widerlicher Tattergreis!«
»Er ist zwei Jahre jünger als Vater. Und es gibt viele junge Frauen, die ältere Männer heiraten. Kennst du Rosie Farelly? Sie hat ihren Vormund geheiratet, und sie scheint sehr glücklich zu sein!«
»Sie muss ihn ja auch nicht bis ans Ende der Welt begleiten! Neuholland! Was gibt es dort schon? Sträflinge und wilde Tiere!« Moira redete sich immer mehr in Rage. »Es dauert fast sechs Monate, bis wir dort sind. Sechs Monate! Wie soll ich das nur ertragen? Zusammen mit diesem … diesem Dr. Sauertopf!«
Ivy kicherte, und dann musste auch Moira lachen, bis beide Schwestern Tränen in den Augen hatten.
»Dr. Sauertopf«, keuchte Ivy. »O Moira, wie werde ich dich und deine Sprüche vermissen!«
Mit einem Schlag wurde Moira wieder ernst. Bei der Vorstellung, demnächst all das hier hinter sich lassen zu müssen, krampfte sich ihr Magen zusammen, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen.
»Ich könnte wegrennen«, murmelte sie. »Dann wäre ich wenigstens frei. Ich könnte Pferde züchten und ein eigenes Gestüt haben und das tun, was ich will.«
Noch während sie es aussprach, wurde ihr klar, wie absurd ihre Aussage war. Sie musste sich anhören wie ein
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