Das Lied der Sirenen
sie aus ihrer stoischen Teilnahmslosigkeit herauszuholen. Das hieß noch nicht, daß er sich jetzt entspannen konnte, aber es milderte doch sein Unbehagen. »Es ist«, fuhr er fort, »bei uns schließlich nicht wie bei den Amerikanern. Bei uns lauern nicht hinter jeder Ecke irgendwelche Serienmörder. In unserer Gesellschaft werden mehr als neunzig Prozent aller Morde von Familienangehörigen oder Bekannten der Mordopfer begangen.« Jetzt hörten sie ihm wirklich aufmerksam zu. Wie auf Kommando in der Exerzierhalle wurden gekreuzte Arme entfaltet und übereinandergeschlagene Beine gelockert.
»Aber das Erstellen von psychologischen Profilen kann nicht nur zu Festnahme von Jack the Ripper beitragen, sondern auf einem weiten Feld des Verbrechens eingesetzt werden. Wir hatten bereits bemerkenswerte Erfolge bei Maßnahmen zur Verhinderung von Flugzeugentführungen sowie bei der Überführung von Drogenkurieren, anonymen obszönen Anrufern und Briefschreibern, Erpressern, Vergewaltigern und Brandstiftern. Und ebenso wichtig ist, daß wir das System der Profilerstellung sehr effektiv eingesetzt haben, Polizeibeamte in Verhörmethoden zu unterweisen, mit denen sie bei Ermittlungen in Fällen von Schwerverbrechen aus Verdächtigen mehr herausholen können. Natürlich heißt das nicht, daß es Ihren Beamten an der entsprechenden Sachkenntnis bei Verhören mangelt. Es ist einfach nur so, daß unser klinisch-analytischer Hintergrund differenziertere Zugangsmöglichkeiten eröffnet, die oft bessere Ergebnisse bringen als die herkömmlichen Befragungstechniken.«
Tony holte tief Luft und beugte sich nach vorn, die Hände um den Rand des Pults klammernd. Sein Finale hatte vor dem Badezimmerspiegel sehr gut geklungen. Er betete, daß er damit den Nerv der Leute traf und ihnen nicht etwa auf die Hühneraugen trat.
»Mein Team und ich arbeiten jetzt seit einem Jahr an der auf zwei Jahre konzipierten Realisierbarkeitsstudie des Projekts ›Nationale Einsatzgruppe zur Erstellung von Verbrecherprofilen‹. Ich habe dem Innenministerium vor kurzem einen Zwischenbericht vorgelegt, und man hat mir gestern bestätigt, daß die feste Absicht besteht, diese Einsatzgruppe aufzustellen, sobald mein Schlußbericht vorliegt. Ladies und Gentlemen, diese Revolution in der Verbrechensbekämpfung wird tatsächlich stattfinden. Sie haben jetzt noch ein Jahr Zeit, daran mitzuarbeiten, daß das Projekt in einer Form realisiert wird, mit der Sie einverstanden sein können. Mein Team und ich sind offen für konstruktive Vorschläge. Wir stehen ja alle auf derselben Seite. Wir wollen wissen, was Sie über die Sache denken, denn wir möchten natürlich erreichen, daß sie auch funktioniert. Wir wollen genauso wie Sie, daß gewaltbereite Serienverbrecher hinter Gitter kommen. Ich bin davon überzeugt, daß Sie dabei unsere Hilfe brauchen können. Und ich weiß, daß wir Ihre Hilfe benötigen.«
Tony trat einen Schritt zurück und genoß den Applaus – nicht etwa, weil dieser besonders enthusiastisch aufbrauste, sondern weil damit das Ende der fünfundvierzig Minuten gekommen war, vor denen er sich seit Wochen gefürchtet hatte. Es hatte stets weit außerhalb der Grenzen seines Wohlbefindens gelegen, öffentliche Rede zu halten, und zwar so sehr, daß er nach dem Erringen der Doktorwürde einer akademischen Karriere den Rücken zugekehrt hatte, weil er sich dem Zwang zu permanenten Vorlesungen vor Studenten nicht gewachsen fühlte. Der Gedanke, seine Tage mit dem Herumstochern in den geheimsten Winkeln verwirrter, kranker Verbrechergehirne zu verbringen, erschien ihm weitaus weniger beunruhigend.
Als der kurze Applaus verklang, sprang Tonys Ansprechpartner beim Innenministerium von seinem Stuhl in der ersten Reihe auf. Während Tony bei den Vertretern der Polizei unter seinen Zuhörern nur einen wachsamen Argwohn wachrief, wirkte George Rasmussens allgemeines Verhalten und sein Erscheinungsbild aufreizender auf die Leute als ein Mückenstich. Sein eifriges Lächeln entblößte zu viele Zähne und verlieh ihm eine verwirrende Ähnlichkeit mit George Formby, was im Gegensatz stand zu seinem hohen Beamtenposten, dem eleganten Schnitt seines grauen Nadelstreifenanzugs und dem nachhaltigen Schmettern seines Public-School-Akzents, der so übertrieben klang, daß Tony überzeugt war, Rasmussen sei in Wirklichkeit an irgendeiner kleinen Schule gewesen. Tony hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, während er sein Manuskript zusammenklaubte und seine Folien wieder in
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