0712 - Satan von Kaschmir
Indien, im Jahr 230 vor unserer Zeitrechnung
Kaiser Ashoka saß auf seinem Thron.
Das Volk liebte den bärtigen, ernsten Mann. Von Persien im Westen bis nach China im Osten erstreckte sich sein Reich. Von den Bergriesen des Himalaja bis zu den Stränden von Ceylon entrichteten die Fürsten dem Kaiser ihren Tribut.
Doch Ashoka war nicht nur ein mächtiger, sondern auch ein frommer Herrscher. Das wusste auch die Abordnung aus Kaschmir, die soeben vor seinem Thron niederkniete.
Der Kaiser war ihre letzte Hoffnung.
»Was ist Euer Begehr?«
Ashokas Stimme war tief und wohltönend. Er war in ein seidenes Gewand gekleidet. Die goldene Krone des indischen Reiches saß auf seinem Haupt. Lang wallte das Haar bis auf den Rücken hinunter.
Der Kaiser empfing die Delegation in einem Saal, der zum Garten hin offen war. Hinter Ashoka blühten herrliche Pflanzen in allen Farben des Regenbogens, kunstvolle Wasserspiele erfreuten das Auge.
Doch selbst dieser friedliche Anblick konnte die Männer aus Kaschmir nicht erheitern. Ihre Gestalten waren gramgebeugt, die Gesichter vom Kummer verdüstert.
Sie wollten nicht so recht mit der Sprache heraus.
»Wie kann ich Euch helfen?«, bohrte der Kaiser nach. »Ihr habt gewiss nicht die lange Reise auf euch genommen, nur um mir einmal zu Füßen zu liegen, nicht wahr?«
Nun ergriff der Älteste das Wort. Er war ein Nawab, ein Regionalfürst.
»Leider, mächtiger Ashoka, hat der Tod Einzug in unserer schönes Kaschmir gehalten. Der tausendfache Tod, genauer gesagt.«
Der Kaiser beugte sich vor.
»Was ist geschehen? Wütet eine schlimme Krankheit unter dem Volk?«
»Ich wünschte, es wäre so.« Der alte Nawab senkte sein würdiges Haupt. »Doch die Bedrohung kommt aus den Tiefen der Unterwelt.«
»Böse Dämonen also!«, sagte Ashoka.
Der Kaiser war ein gläubiger Buddhist. Er wusste, dass es nicht nur Menschen, Tiere, Halbgötter und Götter gab. Sondern auch hungrige Geister und Dämonen. Waren diese nun in Kaschmir aus ihren Tümpeln der Bosheit emporgestiegen?
Unter seinen Höflingen machte sich Unruhe breit. Doch Ashoka brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Es ist nur ein einziger Dämon, großer Kaiser!«, betonte der Sprecher der Abordnung. »Doch er wütet grausam unter den Menschen und Tieren unserer Heimat!«
»Seit wann treibt er sein Unwesen?«, wollte Ashoka wissen.
»Am ersten Vollmond im Frühjahr hat Gubhar erstmals ein Dorf überfallen.«
»Vor ungefähr fünfzig Tagen also.«
»Jawohl, großer Kaiser.«
»Und dieser Dämon nennt sich Gubhar?«
»Jawohl, großer Kaiser.«
»Was habt ihr bisher gegen ihn unternommen?«
»Nicht viel«, musste der alte Nawab einräumen. »Er ist überall und nirgends. Manchmal steigt er von den Gipfeln der Berge herab. Dann wieder taucht er aus den Fluten des Dal-Sees auf. Und als meine wenigen Krieger Gubhar einmal gegenübertreten konnten, hat er sie bis auf den letzten Mann niedergemacht!«
Kaiser Ashoka lauschte schweigend. Nachdem der alte Nawab verstummt war, dachte der Herrscher lange nach. Schließlich öffnete er wieder den Mund.
»Ich werde eine Armee nach Kaschmir schicken. Dieser Gubhar wird nicht triumphieren, denn das Böse siegt am Ende nie. Und ich werde den Segen des Buddha für Gubhars Opfer erflehen.«
Dankbar beugten sich die Männer aus Kaschmir vor und berührten mit ihren Stirnen den Boden zu Füßen Ashokas.
***
Eine mächtige Armee marschierte von Amritsar im Punjab in nördlicher Richtung nach Kaschmir.
Hundert Kriegselefanten hatte Kaiser Ashoka aufgeboten. Auf ihren Rücken saßen Elite-Bogenschützen. Eine Abteilung Reiter gehörte ebenfalls zu der Truppe. Außerdem Streitwagen, die jeweils von zwei Pferden gezogen wurden. Und fast tausend Mann Fußsoldaten mit Rundschilden und langen Speeren. Ihre Helme blinkten im hellen Sonnenlicht.
Die Armee war nicht zu übersehen. Am Ufer des Indus, der dem mächtigen Reich Indien seinen Namen gegeben hatte, quälte sich die lange Kolonne bergauf.
In der fruchtbaren Hochebene von Srinagar verteilten sich die Truppen. General Matsya wollte den Schlupfwinkel des Dämons finden.
Als Kriegsmann war Matsya nicht sehr bewandert in magischen Dingen. Doch er sagte sich, dass der Dämon Gubhar ja irgendwo aus der Unterwelt herausgekommen sein musste.
Diesen Platz galt es, zu finden.
Matsya selbst ritt auf einem kräftigen Schimmel seiner Abteilung voran.
Die Soldaten näherten sich einem Dorf, das an einem Hang errichtet worden war.
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