Glückskind (German Edition)
Wieder so ein Scheißtag. Hans D. macht den Wecker aus. Wenn er ihn nicht stellt, bleibt er einfach liegen. Manchmal den ganzen Tag. Wenn er ihn stellt, wie heute, hasst er seinen Wecker. Und er hasst sich selbst, weil er nicht hochkommt, weil er seine Wohnung noch immer nicht aufgeräumt hat, obwohl sie allmählich aussieht wie eine Müllhalde. Nicht einmal die Essensreste von gestern hat er beseitigt. Sie liegen auf dem Wohnzimmertisch herum, Tiefkühl-Hamburger mit Tiefkühl-Pommes-Frites und Ketchup, überall sitzen Fliegen darauf. Die Mülltüten stapeln sich an der Wand neben der Wohnungstür, er trägt sie nicht hinunter. Hans stöhnt. Er will sich das alles nicht klarmachen, er will nicht wahrhaben, wie es ihm geht, nämlich schlecht, so schlecht, dass er es kaum erträgt, einen klaren Gedanken zu fassen, den einzigen, der in Frage käme: Reiß dich zusammen, Hans! Ändere dein Leben! Nein, jetzt bitte keine klaren Gedanken.
Hans wälzt sich auf die andere Seite. An der Stelle, wo nachts sein Kopf liegt, ist das Kissen bräunlich verfärbt. Wann hat er den Bezug das letzte Mal gewechselt? Er schiebt auch diese Frage zur Seite, wie schon gestern und vorgestern. Sein Blick fällt auf den Boden. Überall Staub, eine dicke Schicht, man sieht, wo Hans den Boden berührt und wo nicht. Es gibt Pfade, wo weniger Staub liegt, weil er immer dieselben Wege geht. Vom Bett zum Klo, vom Klo zum Bett, vom Bett zum Kühlschrank. Die Küche ist eng, es gibt einen halbrunden Tisch aus Holz, der an der Wand befestigt ist, man kann ihn herunterklappen, wenn man Platz braucht, davor steht ein alter Klappstuhl aus Metall, früher einmal war er weiß, jetzt ist er zerkratzt und schäbig. Vom Kühlschrank ins Wohnzimmer, das zu groß ist für einen einsamen Mann. Vom Bett zum Bad mit seiner viel zu kurzen Badewanne. Eine Scheißwohnung, und dafür zahle ich fünfhundert Euro, denkt Hans und kratzt sich den Bart, den er trägt, weil er eines Tages aufgehört hat, sich zu rasieren. Die Haare wuchern ihm über die Lippen, wenn er isst, verfangen sich Essensreste darin. Manchmal bemerkt er es tagelang nicht, denn er hat aufgehört, sich im Spiegel zu betrachten. Mühsam setzt er sich im Bett auf, die alten Knochen wollen liegen bleiben. Nein, denkt er: Der dumme alte Kopf will liegen bleiben, er denkt sich die Knochen schwerer, als sie sind. Aber diesen Gedanken hat Hans schon so oft gehabt, dass er sich fragt, warum er nicht auf ihn verzichtet. Bringt ja doch nichts, denkt er. Mühsam setzt er sich auf. Seine Füße schlüpfen in die ausgelatschten Filzpantoffeln, er wirft einen Blick aus dem Fenster. Ein trüber Tag. Der Wievielte ist heute eigentlich? Hans weiß es nicht. Er steht auf. Der Rücken ist steif, es dauert eine Weile, bis er sich ganz aufrichten kann. Irgendwann in den nächsten Tagen muss er den Weiterbewilligungsantrag ausfüllen und abschicken und hoffen, dass Frau Mohn ihn nicht ins Amt zitiert. Das macht sie gern, seit er ihr einmal die Meinung über ihre Unfreundlichkeit gesagt hat. Dieses dumme Luder, denkt Hans. Die ist bestimmt in der Schule immer gehänselt worden und rächt sich jetzt dafür. Wenn ich jünger wäre, denkt Hans, könnte die nicht so mit mir umspringen. Aber stimmte das? Als er jünger war, sprangen sein Sohn und seine Tochter nach Belieben mit ihm um. Und seine Frau? Wo die wohl alle jetzt steckten, jetzt, in diesem Moment, während er sich in seiner beschissenen kleinen Wohnung die Kleider anzieht, die er seit einer Woche trägt. Sie stinken, Hans stinkt. Aber mich kann keiner riechen, denkt er und lacht halb belustigt, halb bitter über sein Wortspiel. Er geht in die Küche. Leere Milchkartons türmen sich vom Boden bis unter das Fenster. Bis fünfzig hat er sie gezählt, es war sein perverses Hobby: den eigenen Niedergang akribisch genau zu beziffern. Dann hat er aufgehört, weil er nicht pervers genug ist, oder weil diese Perversion ihm zu viel Selbsterkenntnis abverlangte. Ich bin das Gegenteil von Robinson Crusoe, denkt er, als er den alten Kühlschrank öffnet und nachsieht, ob noch Milch da ist. Er liebte das Buch als Kind, und er hat nie Zweifel gehabt, dass es auch ihm gelänge, sich selbst zu organisieren, wenn er in der gleichen Lage wäre wie Robinson. Es gab Zeiten, da hat er sich gewünscht, auf eine Südseeinsel zu geraten. Aber wie hätte er dorthin gelangen sollen, er, der nie Geld für eine so weite Reise hatte? Jetzt war er mitten in der Zivilisation gestrandet, mitten in
Weitere Kostenlose Bücher