Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
mit weit ausgebreiteten Schwingen ein Adler. Der vor ihm fliehende Vogelschwarm huschte tief an dem Wagen vorbei. Vor den Pferden hatten die Vögel anscheinend weniger Angst als vor dem gefiederten Räuber.
Die frische Brise war ein Genuss. Marie schloss die Augen und lauschte den Geräuschen ringsherum. Das Kreischen des Adlers wurde vom leisen Klappern der Töpfe übertönt, die am Planwagen festgebunden waren. Als der Untergrund holpriger wurde, juchzte weiter vorn jemand auf.
Wenig später rumpelte ihr Wagen über dieselbe Bodenwelle, die wohl auch den vorherigen Wagen zum Schwanken gebracht hatte. Erschrocken schrie Marie auf, als sie gegen Ella geschleudert wurde. Diese lachte nur, als sie sie auffing.
»Du solltest weniger träumen und dich besser festhalten.«
»Ich habe nicht geträumt, sondern nachgedacht«, wehrte Marie ab, als sie sich wieder zurechtsetzte. Um nicht noch einmal nach vorn zu kippen, griff sie jetzt aber doch nach dem Seil, das unterhalb der Plane angebracht war.
Wenig später schweiften ihre Gedanken wieder in die Ferne. Geschichten kamen ihr in den Sinn, die sie vor ihrer Abreise gelesen hatte. Die Reiseberichte und Romane strotzten geradezu vor Naturwundern, Wildwasserfahrten und Abenteuern mit Indianern und Pelzhändlern. Doch davon hatten sie bisher noch nicht viel mitbekommen. Das einzige, was mit den Schilderungen der Schriftsteller übereinstimmte, waren die hohen tiefen Wälder, die kein Ende zu nehmen schienen.
Wann werden wir wieder einmal eine Stadt sehen?, fragte sie sich. Und wird es dort tatsächlich Trapper wie Lederstrumpf geben?
Am Abend machte der Zug schließlich auf einer Lichtung Halt. Wie Marie von den Männern aufschnappte, waren sie mit dem Fortschritt der Reise sehr zufrieden.
»In ein paar Tagen erreichen wir Dryden, dort können wir frisches Wasser und Proviant aufnehmen«, erklärte Mr Johnston, während er auf seine schon ziemlich zerschlissene Karte tippte. »Dann beginnt der längste Abschnitt Richtung Selkirk.«
»Bloß gut!«, rief da einer der Wagenlenker. »Eines der Mädchen auf meinem Wagen schwächelt und sollte mal zum Arzt. Wir wollen sie doch alle lebend ans Ziel bringen.«
Das Schnaufen des Treckchiefs klang alles andere als begeistert, doch er nickte.
»Frauen sind kostbar. Wir können nicht zulassen, dass einer der Jungs da draußen im Hinterland keine Frau bekommt.«
Diese Worte brachten Marie dazu, den Anführer des Trecks zum ersten Mal ein wenig genauer zu betrachten. Er war hochgewachsen und kräftig; die langen Aufenthalte im Freien hatten seine Haut gebräunt, und die Zeit hatte ihre Spuren darauf hinterlassen. Dennoch wirkte er sehr attraktiv, was besonders an seinen hellen Augen lag, die noch die eines jungen Mannes zu sein schienen, immer noch voller Hoffnungen und Träume. Ob er den Männern in Selkirk neidete, dass sie eine Frau bekamen? Aber er hatte doch sicher selbst eine?
Nein, bestimmt nicht, sagte Marie sich, denn sie hatte gehört, dass der Job eines Treckbegleiters ziemlich gefährlich sein konnte. Neben Indianern und marodierenden Soldaten, die sich mit Diebstählen und Überfällen über Wasser hielten, gab es auch Mädchenhändler, denen eine Fuhre Frauen ganz recht kam.
Marie erschauderte immer wieder, wenn sie die Gewehre und Revolver sah und auf den Gesichtern der Männer die Entschlossenheit, sie auch zu benutzen. Das war in Deutschland anders gewesen. Nicht einmal alle Soldaten hatten die nötige Entschlossenheit besessen, auf einen anderen Menschen zu schießen.
»Na, schaust du dir jetzt doch die Jungs an?«, wisperte es amüsiert hinter ihr. Marie zuckte zusammen. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Ella hinter sie getreten.
»Willst du, dass mir das Herz stehen bleibt?«, flüsterte sie, während sie sich die Hand auf die Brust presste.
»Dein Herz bleibt schon nicht stehen, Marie Blumfeld. Ich würde sogar sagen, dass du eines der stärksten Herzen hast, die in diesem Treck unterwegs sind.«
Als eine der wenigen hier kannte Ella ihre Geschichte. Doch Marie war nicht gewillt, jetzt darüber nachzudenken.
»Ich habe mir angehört, was die Männer über den Treck erzählen. Offenbar geht es einem der Mädchen nicht gut.«
»Ja, das habe ich auch schon gehört. Einer im zweiten Wagen ist ständig schlecht. Ich sage dir, die ist schwanger.«
»Wie das denn?« Marie überlegte. Ihre Überfahrt hatte gut ein halbes Jahr gedauert. »Sie wird sich den Magen an dem Trockenfleisch verdorben haben. Oder
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