Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
…« Dass sie vielleicht die Cholera oder die Ruhr haben könnte, darüber wollte Marie gar nicht nachdenken. Auf dem Schiff hatte es hin und wieder auch Verdachtsfälle gegeben, die sich allerdings als haltlos erwiesen hatten. Ansonsten würden sie wohl immer noch im Hafen von Boston unter Quarantäne stehen.
»Ich sage dir, sie hat einem der Männer in Boston mehr als schöne Augen gemacht.«
»Aber sie ist doch verlobt!«
»Na und? Noch weiß sie nicht, was für einen Mann sie kriegt. Vielleicht ist er alt und krank. So hat sie dann wenigstens noch einmal ein bisschen Vergnügen gehabt!«
Als ob es einer Frau anstünde, nach Vergnügen zu suchen. Marie meinte auf einmal wieder die strenge Stimme ihres Vaters zu hören, doch sie schob sie schnell beiseite.
»Ich glaube nicht, dass sie so leichtfertig …«
»Sch!«, machte Ella, denn sie hatte bemerkt, dass die Männer verstummt waren.
Doch es war zu spät. Der Treckchief kam mit langen Schritten zu ihnen und faltete dabei eine Landkarte zusammen.
»Gibt es ein Problem, Ladys?«, fragte er freundlich lächelnd. Marie entging nicht, dass seine Augen auf ihr wesentlich länger ruhten als auf Ella.
Sei nicht albern, schalt sie sich, konnte aber nicht verhindern, dass sie wie ein ertapptes Kind errötete.
»Ich habe Sie reden gehört und wollte ein bisschen zuhören«, gestand sie, denn von ihnen beiden sprach sie das bessere Englisch. Während der Überfahrt hatte sie Ella ein paar Worte und Phrasen beigebracht, mit denen sie sich unter den Einheimischen zurechtfinden konnte. Sie selbst empfand ihre Kenntnisse allerdings alles andere als ausreichend und nutzte jede Gelegenheit zuzuhören, denn dies war, wollte man den Seeleuten auf dem Dampfschiff glauben, die beste Methode, den Wortschatz zu erweitern.
»Sie wollen wissen, wie es mit der Reise vorangeht.« Der Treckchief lächelte verständnisvoll. »Ich kann Ihnen versichern, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt.«
»So hat es sich auch nicht angehört. Aber Sie verstehen sicher, dass wir neugierig sind. Immerhin sind wir meist unter uns, und die meisten von uns sprechen noch kein Englisch.«
»Sie werden es lernen, ein paar Meilen haben wir ja noch vor uns. Sie können sich auf den Besuch in der Stadt freuen. Dryden mag für einen Großstädter vielleicht ein kleines Nest sein, aber für Reisende ist es das Paradies.«
Marie lächelte breit. »Dann ist es ja gut, dass ich eine Reisende bin und nicht aus einer großen Stadt komme. Ich bin sicher, dass es mir dort gefallen wird. Und wenn nicht, sind wir ja nicht lange dort.«
Johnston lachte auf. »Sie haben die richtigen Ansichten, Miss. Ich bin sicher, dass Sie dort etwas finden werden, das Sie mögen. Ich werde Sie mit der Besitzerin des Warenhauses bekannt machen, die hat das Herz am richtigen Fleck, genau wie Sie.«
Bevor Marie etwas darauf erwidern konnte, wurde Johnston schon wieder von einem seiner Männer gerufen.
»Entschuldigen Sie mich bitte, meine Damen.« Johnston tippte an seinen Hut, dann wandte er sich um. Als er mit langen Schritten zu den anderen ging, knuffte Ella Marie leicht in die Seite.
»Was ist?«, flüsterte Marie, als ihre Freundin sie breit anlächelte.
»Er mag dich.«
»Das bildest du dir nur ein.« Marie ärgerte sich, als sie die Hitze auf ihren Wangen spürte. Dass sie errötete, zeigte nur, wie sehr sie sich insgeheim über Ellas Behauptung freute. »Wir sollten lieber wieder zu den anderen zurückgehen, sonst sagt man uns noch nach, dass wir uns an die Männer heranmachen wollen.«
Ella zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Die anderen zerreißen sich den ganzen Tag lang das Maul; was macht es für einen Unterschied, ob wir das Thema sind oder nicht? Wahrscheinlich sehen wir einander niemals wieder. Aber meinetwegen, gehen wir zu den anderen. Heute Abend soll es ein Lagerfeuer geben, und wir werden zum ersten Mal beim Schlafen nicht unterwegs sein. Das bedeutet, dass du heute wohl auch ein Auge zubekommen wirst.«
»Das hoffe ich.«
»Natürlich!«, entgegnete Ella und hakte sich bei ihr unter. Für ein paar Momente gingen sie schweigend nebeneinander, dann fragte Maries Begleiterin plötzlich: »Was würde mit uns geschehen, wenn wir es uns vor dem Altar anders überlegen?«
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden. Und bestimmt hast du auch schon darüber nachgedacht.«
Marie schüttelte den Kopf. Bisher hatte sie die geschlossene Verlobung als eine Art geschäftliche Vereinbarung
Weitere Kostenlose Bücher