Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
sich auf den Baumstamm, der ihr als Sitzgelegenheit diente, und stocherte dann mit einem Zweig in der Asche herum.
Auf diese Aufforderung schien der Mann nur gewartet zu haben, denn sogleich ließ er sich vor ihr nieder. Trotz des respektvollen Abstandes begann Maries Herz ein wenig heftiger zu pochen. Johnston musste ein Bad im nahen Waldsee genommen haben, seinem Körper und seinen Kleidern entströmte der milde Duft von Lavendelseife. Den Gedanken, dass er diese extra für sie benutzt haben könnte, verdrängte sie schnell wieder, denn sie spürte, dass er sie auf seltsame Weise beunruhigte.
Eine Weile saßen sie schweigend voreinander und lauschten den Geräuschen der Nacht. In der Ferne raschelte es, ein Vogel stieß einen erschrockenen Ruf aus.
»Halten Sie mich nicht für unverschämt«, begann er ein wenig verlegen.
»Was haben Sie auf dem Herzen?«, fragte Marie freundlich.
»Sie … sie sind anders als die anderen Frauen«, antwortete Johnston errötend.
»Wirklich?«, fragte Marie ein wenig spöttisch. »Und woran sehen Sie das? Ich bin wie alle anderen auf diesem Treck und werde einen Mann heiraten, den ich nicht kenne. Ich glaube, ich bin ziemlich genauso wie alle anderen.«
»Nein, glauben Sie mir, Sie sind nicht so«, gab Angus kopfschüttelnd zurück. »Sie sind gebildet und sprechen Englisch. Auch in Ihrem Land sind das sicher nicht übliche Eigenschaften bei einer Frau. Ich beobachte Sie manchmal, wenn Sie einfach neben dem Wagen sitzen und etwas in Ihr Büchlein schreiben. Sie kommen gut mit den anderen Frauen aus, aber besonders gesellig sind Sie nicht. Manchmal wirken Sie regelrecht in Gedanken versunken.«
Eine Gänsehaut überlief Marie angesichts der Worte des Mannes. So gut hatte er sie beobachtet? Es ärgerte sie ein wenig, das nicht mitbekommen zu haben.
»Sagen Sie, sind Sie wirklich wegen eines Ehemannes hier? Oder haben Sie etwas anderes im Sinn?«
Marie, die sich durchschaut fühlte, als sei ihr Körper aus Glas, zog ihr Schultertuch enger vor der Brust zusammen, als könnte sie sich so vor weiteren Einblicken in ihre Seele schützen.
»Ich will ein neues Leben beginnen«, gestand sie, denn es hatte wohl keinen Zweck, Mr Johnston vorzumachen, dass sie nur wegen des Mannes hier war. Die Verlobung mit Reverend Plummer war in ihren Augen eine geeignete Möglichkeit gewesen, neu anzufangen. Ihre romantischen Mädchenfantasien hatte sie ohnehin in den hintersten Winkel ihrer Seele verbannt. Aber vielleicht würde sie bei ihm ein Zuhause, Achtung und Verständnis für den geheimen Wunsch erlangen, den sie schon seit ihrer Kindheit hegte.
»Ein neues Leben mit Mann und Kindern?«
»Warum nicht?«
Angus kicherte kurz, besann sich dann aber wieder darauf, dass die Leute in den Wagen schlafen wollten. »Verzeihen Sie mir, Miss, aber das kaufe ich Ihnen nicht ganz ab. Ich sehe etwas Bekanntes in Ihren Augen. Etwas, das mir schon einmal begegnet ist.«
Trotz ihres Unbehagens war Maries Interesse geweckt. »Und was soll das sein?«
»Vor ein paar Jahren war ich in New York. Einen Freund besuchen. Eigentlich bin ich ein Sohn der Wildnis und reise mit den Trecks durchs Land. Doch er hatte sich erfolgreich im Nachbarland niedergelassen und wollte seine Freude mit mir teilen. Auf dem Weg vom Bahnhof sah ich dann sie.«
»Eine Frau?« Vielleicht sollte ich doch besser Müdigkeit vorschützen und in meinen Wagen zurückklettern, huschte es ihr durch den Sinn, doch Johnstons eindringlicher Blick nahm ihr die Kraft, den Gedanken in die Tat umzusetzen.
»Mehrere. Eine ganze Horde Frauen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe.«
»Und was haben diese Frauen mit mir zu tun?«
»Eigentlich gar nichts. Und doch sehr viel. Sie demonstrierten auf offener Straße und mit nicht einmal knöchellangen Röcken dafür, wählen zu dürfen.«
»Sie meinen, Sie haben Suffragetten gesehen?«
»Heißen die so? Ich weiß es nicht. Da waren nur diese Frauen, die mit Bannern im Kreis herumliefen und lauthals ihre Parolen riefen. Die meisten Leute schüttelten den Kopf über dieses Verhalten, einige forderten, dass man diese Frauen ins Irrenhaus bringen sollte. Irgendwann sind Polizisten aufgetaucht.«
»Und die haben sie verhaftet?«
»Das wollten sie. Doch etwas hat sie davon abgehalten. Diese Frauen, obwohl sie gegen einen Mann nicht viel aufzubieten hatten, stellten sich Rücken an Rücken und sahen die Polizisten unerschrocken an. Fast war es, als würden sie versuchen, sie mit ihren Blicken zu
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