Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Rücken. Unvermittelt zog sie ihre Hand zurück.
Der Treckchief sah sie beinahe erschrocken an. »Verzeihen Sie, Miss, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Das haben Sie nicht.« Dass er andere Gefühle als Erschrecken in ihr hervorgerufen hatte, wollte sie ihm nicht offenbaren. »Es ist schon spät, vielleicht sollten wir uns zur Ruhe begeben.«
Johnston seufzte fast ein wenig enttäuscht. »Sie haben recht. Ich sollte meine Runde machen. Angenehme Nachtruhe, Miss.«
Er rang sich ein Lächeln ab, dann ging er an ihr vorbei.
»Angenehme Nachtruhe, Mr Johnston«, entgegnete sie, ohne sich umzuwenden. Erst einige Atemzüge später stand sie selbst auf. Als sie sich nach Johnston umsah, war er verschwunden.
Was für ein seltsames Gespräch! Stimmte am Ende gar, was Ella behauptete? Dass einige der Männer sich in sie verguckt hatten?
Marie schüttelte den Kopf. Nein, er wollte sicher nur höflich sein. Und er ist bestimmt auch froh, unter den Frauen eine zu wissen, die seine Sprache spricht. Wie sie bemerkt hatte, konnte von den Wagenbegleitern niemand Deutsch, lediglich der Geistliche fungierte als Dolmetscher, aber er konnte nicht überall sein.
Gerade als sie ihren Blick wieder auf ihre Hände richten wollte, raschelte es in ihrer Nähe. Marie blickte auf. Da sie zunächst nichts sah, glaubte sie, dass das Geräusch von einem Fuchs oder Hasen verursacht wurde. Dann brach etwas Weißes aus dem Unterholz hervor. Erschrocken fuhr Marie in die Höhe.
Ein Wolf! Ein weißer Wolf!
Drei Armlängen von ihr entfernt machte das Tier halt und fixierte sie, das Maul leicht geöffnet, die Augen gelb wie Bernsteine.
Marie zwang sich, so flach wie möglich zu atmen. Auf einmal fühlte sie sich wieder zurückversetzt in ihre Kindheit, wo sie auf dem Dorfplatz unvermittelt einem tollwütigen Hund gegenübergestanden hatte. Das Tier hatte sie mit halb gequältem, halb wahnsinnigem Blick fixiert, während der Schaum nur so von seinen Lefzen lief. Obwohl sie damals erst acht Jahre alt war, hatte sie fest damit gerechnet zu sterben. Ihr Bruder war es gewesen, der den Hund mit dem Jagdgewehr ihres Vaters erlegt und ihr das Leben gerettet hatte …
An dem Wolf vor ihr deutete allerdings nichts darauf hin, dass er tollwütig war. Er fixierte Marie, hechelte und entblößte eine feuchte rosa Zunge. Nach einigen schier endlosen Augenblicken neigte das Tier seinen Nacken. Marie hielt die Luft an. Was sollte sie tun, wenn er sprang? Würde sie schnell genug den Ast erreichen, den sie von hier aus sehen konnte?
Der Wolf stieß ein leises Winseln aus und auf einmal – machte er kehrt! Marie beobachtete verwundert, wie er ihr den Rücken zukehrte und mit hängendem Schweif wieder im Unterholz verschwand.
Erst einige Momente nachdem das weiße Leuchten verschwunden war, wagte sie wieder zu atmen.
Was war das? Warum hat er keine Anstalten gemacht anzugreifen?
Marie ließ sich mit pochendem Herzen wieder auf den Baumstumpf sinken. Dass es hier Wölfe gab, wusste sie, aber bislang hatte sie keinen zu Gesicht bekommen. Und nun hatte ein weißer Wolf vor ihr gestanden!
War er eine Gefahr für das Lager? Marie rang den Impuls nieder, Johnston Bescheid zu geben. Er würde sich sicher auf die Jagd nach dem Tier machen und mit seinem hellen Fell hätte es denkbar schlechte Karten.
Er hat mich nicht angegriffen. Ich sollte ihm dieselbe Chance geben.
Während sie noch eine Weile auf das Unterholz blickte, beruhigte sich ihr Herzschlag wieder.
Ich erinnere mich noch gut an jenen seltsamen Tag, an dem mich mein Bruder auf den Arm hob und mit hinaus in den Garten nahm. Im Haus herrschte große Aufregung, als käme ein besonderer Gast.
»Warum sind hier alle so aufgeregt?«, fragte ich, während ich mich nach den fremden Frauen umsah, die gerade durch den Haupteingang des Hauses traten.
»Erinnerst du dich, dass Kinder nicht vom Storch gebracht werden?«
Ich nickte. Diese Geschichte war mir damals sehr gut im Gedächtnis, weil ich sie so schockierend gefunden hatte.
Nachdem ich mitbekommen hatte, dass sich der Leib meiner Mutter in den vergangenen Monaten immer mehr rundete, hatte mein Bruder es mir erklärt.
»Kinder wachsen im Bauch der Mutter heran und werden nicht vor der Tür abgelegt. So war das jedenfalls bei dir.«
Ich hatte ihm zunächst nicht glauben wollen. Doch unsere Martha hatte es mir nach einigem Zögern bestätigt. Das hatte die Bewunderung für meinen Bruder noch gesteigert, denn er wusste Dinge, die sonst nur die
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