Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
Finger an die Lippen. » Das möchte ich nie wieder hören, verstanden? Lass uns daran glauben, dass deine Mutter wieder gesund wird. Im Gegenteil, wir werden jetzt in einem Haus leben, können uns täglich sehen und uns gegenseitig Kraft geben. Ich werde dir ganz gewiss nicht aus dem Weg gehen, du bist mein Leben! «
Sie wich vor ihm zurück. » Das ist leichtfertig! Immerhin sind in unserem Haus schon zwei Menschen gestorben, oder etwa nicht? «
» Schon, aber sieh dich nur um, mein Herz. Wie vielen Menschen begegne ich im Geschäft oder auf den Marktplätzen der Stadt? Wie viele berühre ich während der Arbeit, auch wenn es unabsichtlich geschieht? Wir atmen alle dieselbe Luft. Nein, ich werde nicht von dir lassen, Anna. Wenn Gott mich für meine Sünden strafen will, wird er es tun, wo auch immer ich mich aufhalte. «
» Deine Sünden? « Sie schob sich eine durch den Wind gelöste Haarsträhne aus dem Gesicht. » Welche Sünden solltest du begangen haben? «
» Oh, da würden mir einige einfallen « , meinte er mit einem verlegenen Grinsen, » aber das ist jetzt unwichtig. Ich muss zurück, bevor Vater mein Verschwinden bemerkt. «
» Ich auch. Sebastian wird auf mich warten. « Sie nahm seine Hände in ihre und hielt sich einen Augenblick an dem beruhigenden Gefühl seiner Wärme fest. » Glaubst du, du könntest dich morgen für ein paar Stunden freimachen, Martin? Ich … brauche dich, ich möchte Mama besuchen. «
Er hielt sie ein Stück von sich ab. » Nie und nimmer werde ich dir erlauben, die Stadtmauern zu verlassen! Weißt du denn nicht, dass es den Ordensleuten, die diese armen Kranken pflegen, strengstens verboten ist, jemals wieder die Stadt zu betreten? « Seine Stimme klang auf einmal hart. » Selbstverständlich ist Besuchern der Zutritt des Gebäudes streng untersagt. «
Anna lehnte die Stirn gegen seine Brust. » Martin, hast du … hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie es Mama dort ergehen mag, ganz allein unter den Sterbenskranken? «
» Ich mag es mir kaum vorstellen « , räumte er leise ein. » Aber ich verspreche dir, ich werde Vater fragen, ob er eine Möglichkeit sieht, sich nach ihr zu erkundigen. « Zart strich er ihr über die Wange. » Bitte sei vernünftig. «
Schmollend löste sie sich von ihm, hauchte einen Kuss auf seine Wange, band das Tuch wieder um Mund und Nase und trat den Rückweg an.
Mit einem beklommenen Gefühl betrat sie kurz darauf ihr Elternhaus. Oben im ersten Stock hörte sie die Schritte ihres siebzehnjährigen Bruders. Hier waren sie geboren, Sebastian, sie und Xaver. Wenn sie für einen kurzen Moment die Augen schließen würde, könnte sie immer noch die Stimmen ihrer Familie vernehmen, die durch das Haus gehallt hatten. Nun schien über den Räumen nur noch der Hauch des Todes zu liegen. Anna verharrte an der Treppe. Seit Papas und Xavers Tod hatten Sebastian und sie die Schlafkammer der Eltern und des jüngeren Bruders nicht mehr betreten. Wortlos waren sie übereingekommen, die Tür einfach aus ihrem Gedächtnis zu bannen.
Die Zeit der Verdrängung würde jedoch mit diesem Tage zu Ende gehen. Während sie zögernd die Stufen erklomm, wurden ihre Knie butterweich. Ihr Bruder musste sie gehört haben, denn er steckte den Kopf durch die Kammertür.
» Da bist du ja. «
Schweigend betrat sie den Raum. Ihre Augen weiteten sich, als sie ein fest verschnürtes Bündel auf ihrer Schlafstatt sowie ein zweites auf seinem Bett vorfand. » Du hast also schon gepackt? « Nachdenklich musterte sie Sebastians Gesicht, das wie in Stein gemeißelt wirkte.
» Hab ich, ja. Ich dachte … «
Sie murmelte einen Dank.
» Ich weiß, was du mir gleich sagen wirst, Anna. Die elterliche Schlafkammer. «
» Wir können es nicht länger vor uns herschieben. «
» Ich hab alles im Hof verbrannt « , bekannte Sebastian mit aufeinandergepressten Lippen. » Das Strohlager, ihre Kleider, einfach alles. « Er wandte sich ab, trat zum Fenster und wies hinaus. » Siehst du? Das Feuer lodert noch. «
Mit brennenden Augen starrte Anna auf die feine Rauchsäule, die in den Himmel emporstieg. Dann riss Sebastian sie in seine Arme.
» Du … du brauchst da nicht mehr hinein, Schwester. Da ist nichts mehr. « Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar, und Anna spürte seinen harten Herzschlag an der Wange. » Für dich ist es schwer genug, wenigstens dies konnte ich dir ersparen. «
Staunend hob sie den Blick, unfähig etwas zu entgegnen. Stattdessen schmiegte sie sich erneut
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