Das Los: Thriller (German Edition)
langsam davonrollenden Dabba hinterher und bekam ihren Riemen zu packen, kurz bevor sie ins Gleisbett fiel. Dann machte er kehrt und flog förmlich über den Bahnsteig auf den Ausgang zu. Eine Wand aus Menschen kam ihm entgegen, doch als er sie erreichte, öffnete sich wie von Geisterhand eine Schneise durch die aufgeheizten Körper. Die Kanne mit den ineinandergesteckten Essenschalen fest in der Hand, bahnte er sich seinen Weg nach draußen, und schon bald hatte er den Bahnhof weit hinter sich gelassen.
Mal hat man Glück , wiederholte er triumphierend in Gedanken die Worte des Polizisten, während er nach einem sicheren Platz für sein Festessen Ausschau hielt.
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A RMLEY , L EEDS
Als Trisha Wilson vor ihrem Elternhaus stand, erinnerte sie sich, warum sie es damals vor sechs Jahren, an ihrem achtzehnten Geburtstag, verlassen hatte: Wer darin wohnte, konnte nur in eine Richtung aus dem Haus blicken. Das Reihenhaus, in dem ihre Eltern Gary und Valerie lebten, stammte aus den Dreißigerjahren und war in der damals typischen Back-to-Back-Bauweise errichtet. Ihr Heim stand wie die Gebäude, die rechts und links angebaut waren, Rücken an Rücken mit dem dahinter hochgezogenen Block. Es teilte sich somit drei seiner vier Wände mit Nachbarhäusern. Dies führte dazu, dass es nur an der Vorderfront Fenster gab, und zwar vier an der Zahl: zwei im Erdgeschoss und zwei im Obergeschoss.
Trisha musste keine Treppenstufe erklimmen, um den Klingelknopf zu drücken; die Eingangstür befand sich ebenerdig, der Gehweg führte direkt darauf zu. Das Schellen der Türklingel weckte in ihrem Gedächtnis weitere Erinnerungen, merkwürdigerweise kam ihr der Geruch von Lavendel in den Sinn. Sie überlegte noch, warum, als die Tür geöffnet wurde und sie in das strahlende Gesicht ihrer Mutter blickte, das sogleich verschwamm. Überrascht stellte Trisha fest, dass sie weinen musste. Dies ärgerte sie ein bisschen, da sie gelernt hatte, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Bevor ihre Mutter sie umarmen konnte, wischte sie schnell mit der Hand über ihre Augen. Ihre Mutter hingegen ließ ihren Tränen freien Lauf, ohne verlegen oder gar beschämt zu wirken.
Wenig später stand Trisha in dem kleinen Wohnzimmer, dem die Ehre zukam, eines der Fenster sein Eigen zu nennen. Ihr Vater erhob sich von seinem Sessel und trat auf sie zu. Während sie ihn umarmte – und dabei zum Glück nicht weinen musste –, bemerkte sie, dass er immer noch im selben Sessel, wie damals vor ihrer Abreise, zu sitzen pflegte. Überhaupt schien sich hier nichts verändert zu haben, die Zeit hinter diesen Mauern stillzustehen. Die Schrankwand, der alte Röhrenfernseher, der Tisch mit der gefliesten Platte, das dunkelbraune Sofa mit den abgesessenen Bezügen, die Anrichte in der Ecke, die Gardinen mit dem Rosenmotiv vor dem Fenster – alles war wie früher. Neu waren lediglich eine Reihe von Fotos in silbernen Rahmen, die auf der Anrichte standen und nur ein einziges Motiv zeigten: sie selbst. Sie erkannte darunter einige Bilder, die sie ihren Eltern in den vergangenen Jahren aus aller Welt geschickt hatte. Die meisten hatte sie mit dem Handy aufgenommen.
»Happy Birthday!«, sagte ihr Vater und klopfte ihr mit seiner großen, schweren Hand ein wenig zu kräftig auf den Rücken, während er sie weiterhin an sich gedrückt hielt.
Trisha lächelte und schob den massigen Körper ihres Vaters ein kleines Stück von sich weg, um besser atmen zu können. Dabei fiel ihr Blick auf zwei eintätowierte Buchstaben, ein »i« und ein »l«, die unter seinem hochgerutschten Hemdsärmel hervorschauten. The Lucky Devil hatte ihr Vater sich als junger Mann in geschwungenen Lettern auf den Unterarm tätowieren lassen. Früher war er ein erfolgreicher Dartspieler gewesen, der den Kampfnamen The Lucky Devil – »Der Glückspilz« – getragen hatte. Als Trisha noch ein kleines Kind gewesen war, hatte ihr Vater die nordenglische Pub-Meisterschaft im Darts gewonnen. Ein durchaus bedeutender Wettbewerb, dessen Sieger über die Pubs hinaus große Anerkennung genoss. Unwillkürlich schielte sie zum Schrank hinüber. Der Pokal stand immer noch dort, glänzend poliert, als wäre er gestern erst errungen worden. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass auch ihr Vater auf seine Art ein Spieler gewesen war.
»Alles Gute, Honey! «, beglückwünschte nun auch ihre Mutter sie.
Trisha fand, dass sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren immer noch sehr attraktiv aussah. Mit dem roten, vollen
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