Das Los: Thriller (German Edition)
Prolog
Er kauerte unweit des Treppenaufgangs neben einer der Säulen. Obwohl die einfahrenden Züge Schichten aufgeheizter Luft vor sich herschoben und mit aller Gewalt über den Bahnsteig drückten, fror er – wie immer, wenn er Hunger hatte.
Am gestrigen Mittag hatte einer der lauten weißen Touristen ihm vor dem Tea & Cold Drink House einen Pappbecher mit einem Rest Schwarztee und Ziegenmilch überlassen. Seine letzte Mahlzeit. Er hatte gehofft, mit dem leeren Pappbecher in der Hand ein paar Rupien zu erbetteln, um sich davon ein Fladenbrot oder eine Schüssel Linsenbrei kaufen zu können. Nachmittags hatte jedoch urplötzlich ein starker Regen eingesetzt und mit dem Staub der vergangenen Wochen auch alle Menschen samt ihrer Geldbeutel von den Straßen gespült. Wenigstens war der Pappbecher dazu gut gewesen, ein wenig vom Regen aufzufangen. Er hatte ganz vergessen, wie frisch Wasser schmecken konnte – ohne das faulige Aroma alter Wassertanks. Das Grollen der Unwetter über Bombay schien sich am Abend in seinen Magen verzogen zu haben. So schlief er irgendwann im Schutz des schmalen Daches, das den Bahnsteig von Andheri vor Regen schützte, hungrig ein. Als er am Morgen erwachte, war das Erstaunen darüber, dass die Polizisten ihn während der Nacht nicht aus dem Bahnhof verscheucht hatten, nur für einen kurzen Augenblick größer als das Loch in seinem Bauch.
Ein Blick auf die große Uhr zeigte ihm, dass er nun bereits über zwei Stunden an der ursprünglich gelb gestrichenen und inzwischen von der Witterung rostbraun gefärbten Säule lehnte. Über seinem Kopf hing an einem Draht ein großes Schild, auf das man ein Werbeplakat geklebt hatte. Diese Plakate waren überall in der Stadt zu sehen. Da er selbst versuchte, sich das Lesen beizubringen, war er stolz, die beiden Worte entziffern zu können, die in dicken braunen Buchstaben darauf gedruckt waren: Salaam Bombay!
Einer der großen Jungs hatte ihm erzählt, dass es eine Werbung für einen Film war, in dem es um Straßenkinder wie sie ging. Er fühlte sich von dem Plakat auf merkwürdige Art und Weise beschützt. Vielleicht hatten die Polizisten auf ihrer Patrouille ganz fasziniert darauf geschaut und deswegen ihn, der darunter lag, einfach übersehen. Er kroch noch näher an die Säule heran und bemühte sich, mit ihr eins zu werden, damit die vorbeiströmenden Menschenmassen ihn nicht versehentlich in einen der abfahrenden Züge mitrissen.
Mühsam kramte er in seinem Kopf nach den besten Ideen, um schnell an eine große Portion Essen zu gelangen. Doch irgendwie fiel ihm das Denken heute schwer. Zu dieser frühen Morgenzeit fuhren die Züge im Minutentakt. Eine Gruppe von Essensboten, Dabbawallas genannt, war damit beschäftigt, ihre großen rechteckigen Holzkästen in den Ladewaggon eines Zuges zu hieven. Mit ihren weiten weißen Hosen, den hüftlangen weißen Hemden und den schiffchenförmigen Mützen wirkten sie zwischen all den bunt gekleideten Menschen wie Reis, den man in ein Gemüsegericht eingerührt hatte. Plötzlich kam Hektik auf. Einer der Dabbawallas hatte einen Moment lang nicht aufgepasst und war mit seinem rechten Bein zwischen Bahnsteigkante und Zug gerutscht. Der Kasten, den er eben noch akrobatisch auf dem Kopf balanciert hatte, war heruntergefallen; und die darin gestapelten Essensboxen lagen nun verstreut auf dem Bahnsteig. Während einige Männer seiner Gruppe damit beschäftigt waren, die Dabbas zurück in den Kasten zu sortieren, versuchten zwei andere, ihren unglückseligen Kollegen aus dem Gleisbett zu ziehen und damit auch sein Bein vor der zermalmenden Gewalt des bald anfahrenden Eisenbahnrades zu retten. Keine Minute verging, und der Kasten sowie der verunglückte Dabbawalla waren sicher im Zug verstaut, der anschließend schnaubend anfuhr und wie ein gesättigtes Tier davonschwankte. Für einen kurzen Augenblick war der Bahnsteig menschenleer und fast wirkte es so, als hätte die Andheri Railway Station einmal kräftig ausgeatmet, bevor von dem Treppenaufgang her bereits der nächste Stoß Menschen auf die Bahnsteige strömte.
In diesem Augenblick sah er sie.
Sie stand genau dort, wo eben noch die Dabbawallas mit dem Missgeschick ihres Kollegen gekämpft hatten, und schien dem entschwindenden Zug einsam nachzublicken. Er zögerte nur eine Sekunde, dann war er bereits bei ihr, riss sie an dem Riemen hoch und schleppte sie zurück zu seinem Platz an der Säule. Er drückte die Beute eng an seinen ausgemergelten Körper.
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