Das Mädchen, das nicht weinen durfte
an ihrem Körper hängen. Bis auf eine kurze Hose war sie nackt. Ich hatte noch nie zuvor eine nackte Frau gesehen, denn meine Mutter bedeckte sich stets, wenn sie sich umzog oder aus dem Bad kam. Marcels Mutter hatte einen kleinen, weiblichen Bauch und einen großen Busen, der etwas herunterhing. Ein leises »Hallo« war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich war verunsichert und schaute mich um. Marcel ging gerade in die Küche, setzte sich an einen kleinen, viereckigen Tisch, und Micky klammerte sich immer noch an das Bein seiner Mama, versuchte sich dort vor mir zu verstecken und lugte immer wieder ein bisschen hervor. Niemand außer mir schien die Situation ungewöhnlich zu finden.
»Komm, setz dich«, rief Marcel. Ich stand noch immer im Flur, als sich ein Kopf über der Sofalehne im Wohnzimmer erhob. Es war Marcels Vater, der ein Buch in der Hand hielt. Er richtete sich auf, um einen Blick auf mich zu werfen, und ich sah seinen behaarten Oberkörper.
»Hallo! Du bist die Nachbarin vom Diplomatenhaus drüben? Setz dich ruhig rüber auf meinen Platz, ich esse dann später.« Ich ging in die Küche. Marcel, Micky und ihre Mutter saßen schon. Ich setzte mich auf den freien Platz. In der Mitte des Tisches stand ein großer Kochtopf, Marcels Mutter nahm die Kelle und füllte uns einen lecker duftenden Eintopf in die Teller. Es war dieser Duft, den ich schon so oft in der Nase gehabt hatte, wenn ich draußen mit Marcel gespielt hatte, und es schmeckte auch genauso gut, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Beim gemeinsamen Spielen mit Marcel stellte sich schnell heraus, dass er der Sportlichere von uns beiden war. Dafür brachte ich immer das schönste Spielzeug und andere tolle Dinge mit. Einmal hatte Papa mir zum Beispiel Kirschen aus dem Westen mitgebracht, die ich so liebte. Ich wusste, dass sich Marcel auch darüber freuen würde, füllte sie deshalb in eine braune Papiertüte und nahm sie mit. Ich rannte zum Spielplatz und wartete auf Marcel. Es waren viele andere Kinder aus der Nachbarschaft dort, die ich nicht kannte und die mich auch nicht beachteten. Ich setzte mich auf eine Holzbank und wartete. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann kam er, mit Micky an der Hand, und ich grinste ihn an.
»Was is’n da drin?«, fragte er neugierig, denn er wusste, dass es etwas Besonderes sein musste. Ich hielt ihm die Tüte hin, er klappte das Papier auf und vergrub sein Gesicht darin.
»Boah, Kirschen!«, rief er. »Krieg ich welche? Bittööööö!« Seine Augen wurden größer und größer. Das tat er immer, wenn er etwas von mir haben wollte. Dabei bekam er von mir ohnehin immer alles, was er wollte. Ich dachte nämlich, er würde mich sicher weiterhin mögen, wenn ich ihm nur genug schenkte. Wahrscheinlich wäre das nicht nötig gewesen.
Die anderen Kinder auf dem Spielplatz hatten mitbekommen, welche Kostbarkeit sich in der Papiertüte befand, und kamen neugierig auf uns zu.
»Hast du Kirschen? Dürfen wir auch welche?« Ich griff hinein, holte eine Handvoll heraus und verteilte sie in die ausgestreckten Hände. Sobald jemand seine Kirschen aufgegessen hatte, streckte er seine Hand noch mal hin. Ich kam gar nicht mehr hinterher, genoss aber die plötzliche Aufmerksamkeit und freute mich über meine neuen Freunde. Doch dann befürchtete Marcel wohl, die anderen würden ihm noch alles wegessen.
»Ich habe eine Idee!«, rief er und zupfte mich an der Schulter. »Wir machen einen Wettkampf. Wir rennen von dieser Holzbank bis zu der da drüben und zurück. Wer als Erster wieder hier ist, bekommt eine Kirsche.« Davon waren alle begeistert.
»Auf die Plätze, fertig, los!«, rief Marcel. Wir rannten los. Acht Kinder im Wettkampf um jede einzelne Kirsche. Aber immer gewann Marcel, kein Wunder, er war der Größte und Schnellste. Eine Kirsche nach der anderen verschlang er, bis irgendwann fast keine mehr übrig war und wir alle aus der Puste waren von der Lauferei. Unsere Beine waren ganz verstaubt und die Füße, die in Sandalen steckten, waren dreckig. Aber ich war glücklich.
Meine Kindersorgen in diesen Jahren
Wenn Papa nach Hause kam, stürmte ich auf ihn zu und plapperte auf ihn ein, noch bevor er überhaupt seine Sachen ablegen konnte. Mit ihm sprach ich deutsch, so wie er es mir hier beigebracht hatte. Er selbst hatte diese Sprache Anfang der 1960er-Jahre als Student in Bonn gelernt, wo er später auch als erster Sekretär der somalischen Botschaft gearbeitet hatte.
Eines
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