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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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Vater, wann Sami wieder zu uns kommt.
    »Er kommt nicht mehr, denn er ist jetzt im Himmel bei den Engeln.« Sami war an einer Hirnhautentzündung gestorben. Er wurde auf einem Friedhof in Ostberlin beerdigt, hier lagen viele kleine Engel unter winzigen Grabsteinen, in kleinen Särgen und Gräbern. Einer der Grabsteine war wie ein Herz geformt.
    Ein Jahr nach Samis Tod brachte Mama noch ein Kind zur Welt, eine Tochter. Sie wollte sie Diana nennen, nach Lady Di, aber dann nannten meine Eltern sie Chuchu, und sie sollte unsere kleine Prinzessin werden.

Der Ernst des Lebens - die Schulzeit beginnt
    Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult und ging in die erste Klasse der Schule der Solidarität . Jetzt war es vorbei mit Topfschlagen und Mittagsschläfchen, ich bekam ein blaues Halstuch und ein Käppi: Ich war eine Jungpionierin !
    Unsere Lehrerin Frau Müller war schon älter. Bei ihr mussten wir uns an die Regeln halten, nur Fleiß und Sorgfalt lobte sie, wer sich danebenbenahm, wurde getadelt. In ihrem kleinen weißen Kreideschrank bewahrte sie auch einen Glasbehälter mit Bonbons auf. Es waren große, runde Bonbons in Himbeerform, ich habe ihren Geschmack noch auf der Zunge. Jedes Mal, wenn sie den Schrank aufmachte, spähten alle auf das Glas, das in verführerischem Rot strahlte. Leider bekam nur selten ein Schüler solch ein Bonbon von Frau Müller, denn es war ihre größte Auszeichnung.
    In der Schule war viel mehr los als im Kindergarten. Morgens tummelten sich Eltern und Kinder am Eingang, ich wurde als Einzige von einem Chauffeur gebracht. Und wenn der Unterricht vorbei war, war ich die Einzige, die oft bis zum späten Nachmittag auf den Fahrer warten musste, weil ihm keiner gesagt hatte, wann Schulschluss war. Wenn Papa nicht zu Hause war, fiel mein Fehlen erst auf, wenn bereits einige Stunden vergangen waren oder er von der Arbeit kam.
    »Wo ist denn Khadra? Wartet sie etwa immer noch an der Schule, bis sie jemand abholt?«, fragte er dann und fuhr schnell selbst noch mal los.
    An einem Tag geschah das wieder: Ich hielt Ausschau nach unserem Mercedes, aber niemand kam, und ich vertrieb mir die Langeweile auf der Spielwiese neben dem Pausenhof. Nach zwei, vielleicht drei Stunden Warten versuchte ich mich an meinen Heimweg zu erinnern. Ich war mir nicht sicher, aber ich wusste, dass ich am Ende der Straße rechts abbiegen musste. In welche Richtung es danach weiterging, wusste ich nicht, aber vielleicht
würde ich mich daran erinnern, wenn ich erst einmal dort war. Ich überlegte noch ein paar Sekunden und dann lief ich los - wenn ich es nicht finden würde, konnte ich ja zurück zur Schule laufen, dazu musste ich nur umkehren und denselben Weg zurückgehen.
    Als ich am Ende der Straße rechts abbog, gelangte ich in eine große, von Kastanien gesäumte Allee, und erst jetzt fiel mir auf, wie schön sie war. Ich war sehr konzentriert und schaute auf meine kleinen Schuhe, die Schritt für Schritt den Bürgersteig entlangliefen, und hatte keine Angst, nur ein Ziel. Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, jemand hupte und ich sah ein Auto auffällig langsam auf mich zurollen. Dann erkannte ich meinen Vater hinterm Steuer, der mich anlachte. Er klatschte in seine Hände, reckte sie in die Luft, als ob er eine Trophäe gewonnen hätte, und sprach vor sich hin.
    »Njunja! Njunja!«, konnte ich von seinen Lippen ablesen, dann stieg ich zu ihm ins Auto. »Njunjaaaaa! Ganz alleine bist du den Weg bis hierher gelaufen? Ganz allein?« Ich spürte seine Bewunderung und war stolz auf mich. »Hättest du denn gewusst, wo entlang du weitergehen musst?« Ich zuckte mit den Schultern. »Hattest du keine Angst?« Nein, ich hatte keine Angst gehabt.
    Als wir zu Hause ankamen, erzählte er allen, was geschehen war, und noch abends hörte ich seine Stimme aus dem Schlafzimmer meiner Eltern »… Ganz allein ist sie den Weg gelaufen … Ich dachte, ich sehe nicht richtig … und sie hatte überhaupt keine Angst …« Ich lief zu ihnen, Papa saß schon mit Schlafanzug im Bett und lehnte an der Wand, Mama saß an ihrem Schminktisch und kämmte sich ihr Haar.
    »Da ist sie ja!« Er klopfte auf den Platz neben sich und ich krabbelte zu ihm. Er kraulte mir mit den Händen den Kopf, dann wurde er nachdenklich.
    »Das, was du heute getan hast, war sehr mutig, aber es war auch gefährlich. Es ist ein langer Weg bis nach Hause und du kennst ihn nicht. Bitte warte in Zukunft immer in der Schule, ich sage
den Fahrern, dass sie

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