Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Nachmittags kam er nach Hause und brachte mir zwei rosafarbene Verpackungen mit. Darin waren Barbies.
»Hier Njunja, such dir eine aus, und die andere gibst du der Tochter von Hilde, ja?« Er lief an mir vorbei in sein Zimmer, wo er sich immer erst einmal bequemere Sachen anzog, sobald er
von der Arbeit nach Hause kam. Ich sah mir die Verpackungen an und mir gefiel besonders die eine Barbie. Sie hatte eine schokobraune Hautfarbe und pechschwarzes langes Haar, das nicht so kraus wie meines war, mit weichen, großzügigen Locken, die der Puppe bis zur Hüfte reichten. Ich besaß Dutzende von den Blonden, aber eine so schöne Barbie hatte ich noch nie gesehen. Sie trug Hotpants in Pink und ein kurzes türkisfarbenes Glitzertop und Rollerblades. »Wow! Die behalte ich!«, dachte ich sofort. Die blonde Barbie würde ich Sabrina schenken.
Ich legte die Puppen auf den kleinen Glastisch, der in der Eingangshalle unter einem Spiegel stand, und lief zum Schlafzimmer meiner Eltern, denn ich hatte Papa noch gar nicht richtig begrüßt. Ich ging gerade den Flur entlang, da kam er aus dem Zimmer auf mich zu. Er hatte sich nicht umgezogen und trug eine gepackte Sporttasche, die an seiner linken Hand hing. Er schaute mich nicht an und versuchte, schnell an mir vorbeizuhuschen. Das war eigenartig, irgendwas stimmte nicht. Hilde lief hinter ihm her.
»Hier, Sie haben noch ein Handtuch vergessen, das werden Sie brauchen.« Sie öffnete den Reißverschluss der Tasche und stopfte das Handtuch schnell hinein, während er weiterging. Plötzlich lief sie auf mich zu und versuchte mich wegzulocken.
»Komm her, Mädchen, lass den Vati jetzt mal. Er hat es eilig.« Ich war verwirrt und ging zu Mama ins Schlafzimmer, wo sie auf ihrem Bett saß.
»Wo geht Papa hin?«, fragte ich.
»Er muss ins Krankenhaus«, antwortete sie nur kurz. Ich rannte zurück in die Eingangshalle: »Papa, ich komme mit!« Doch Hilde hielt mich auf, als hätte er sie beauftragt mich abzulenken. Er wusste, dass ich ihn nicht so einfach gehen lassen würde, dachte wohl, wenn er das Haus heimlich verließe, würde es mir nicht auffallen. Hilde packte mich an beiden Armen, hockte sich auf ihre Knie und sah mir direkt in die Augen: »Hör mal, Mädchen, der Vati geht jetzt für ein paar Tage ins Krankenhaus. Er muss
untersucht werden.« Ich bekam Angst und riss mich von ihr los, Tränen schossen mir in die Augen und ich rannte in mein Zimmer. Ich wollte nicht, dass Papa mich weinen sah, aber ich hatte Angst, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Die Tür ging auf und Hilde kam mit den beiden Barbies in der Hand herein.
»Hier, schau mal! Die hat dir der Vati mitgebracht. Die Sabrina darf sich auch eine aussuchen, hat er gesagt.«
»Geh raus!«, brüllte ich sie aus dem Zimmer. Die Tür ging schon wieder auf und Papa kam rein.
»Njunja, wein doch nicht. Ich muss nur für ein paar Tage ins Krankenhaus, um etwas kontrollieren zu lassen. Es ist nichts Schlimmes.« Ich hielt die Luft an, weil ich dachte, ich könnte dann aufhören zu weinen. Ich drehte mich zum Fenster und wischte mir schnell die Tränen weg. Papa beugte sich zu mir herunter und umarmte mich. Ich blieb stocksteif sitzen, er gab mir einen Kuss auf die Wange und strich mir mit seinen weichen Handflächen übers Gesicht.
»So, der Vati muss jetzt aber los. Der Fahrer wartet schon«, rief Hilde. Ich spürte, dass es ihm nicht leicht fiel zu gehen, und versuchte stark zu sein, weil ich ihm den Abschied nicht noch schwerer machen wollte. Dann ging er. Ich blieb noch eine Weile im Zimmer, bis ich mich beruhigt hatte, und als ich ins Foyer kam, war Papa weg. Hilde und ihre Tochter Sabrina waren auch weg. Auf dem Tisch lag noch eine Barbie-Packung. Es war die mit der blonden Puppe.
Mein Vater hatte damals schon Bluthochdruck, was ich erst Jahre später erfahren sollte. Ich hatte ihn nur häufig Tabletten einnehmen sehen und mich um ihn gesorgt, ohne wirklich zu wissen, warum. Aber ich hatte schon früh große Verlustängste, wenn es um meinen Vater ging, die so schlimm waren, dass ich manchmal mitten in der Nacht aufwachte, um zu lauschen, ob er noch atmete. Dann hörte ich sein leises Schnarchen und alles war gut, und ich schlief wieder ein. Es lag wohl daran, dass er beruflich
immer sehr viel weg war, und daran, dass er doch schon recht alt war, als ich auf die Welt kam. Warum auch immer: Ich sorgte mich um ihn.
Auch um Mama hatte ich manchmal Angst. Eines Abends zum Beispiel war Papa allein im
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