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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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und sie begriff, dass um sie herum die schrecklichste all ihrer Visionen Wirklichkeit geworden war. Es war ihr Traum: Leichen pflasterten die Straßen, und wohin sie auch blickte, kämpften Männer – erbittert und wie im Rausch. Das Geräusch klirrender Degen vermischte sich mit den Schreien und dem Stöhnen der sterbenden Verwundeten. Und sie rannte weiter, getrieben und voller Schuldgefühle, weil sie es nicht verhindert hatte …
    Sie weinte und lief, obwohl ihre Lungen schmerzten und sie nicht wusste, wohin. Man hatte sie alle getötet. Nichts hatte sie verhindern können!
    »Madeleine!« Doch sie hörte den Schrei nicht einmal. »Madeleine!« Ein Reiter war hinter ihr.
    Er würde sie töten, genau wie die anderen. Angsterfüllt wandte sie sich um.
    »Madeleine!«
    Es war Nicolas! Er lebte? Fassungslos blieb sie stehen.
    Ein Schuss ertönte. Nicolas, der fast neben ihr war, zuckte zusammen. Man hatte ihn getroffen. Nein! Sie schrie auf. Er zog sie dennoch mit schmerzverzerrtem Gesicht zu sich aufs Pferd. Sie sah das Blut an seinem Hemd und hörte, wie er schwer atmete, während er das Pferd an Notre-Dame vorbei zur anderen Seite der Seine trieb. In einer schmalen Gasse glitt er vom Pferd. Er lehnte sich gegen die Häuserwand.
    »Wir müssen versuchen, bis zu Walsinghams Haus zu kommen. Er ist Protestant wie wir, aber als Botschafter Englands geschützt. Er wird uns helfen«, sagte er. Sie nickte. Er war blass. Der Ärmel seines Hemds war dunkelrot, obwohl er die Hand daraufhielt.
    »Warte!«
    Sie ging zu einer der Leichen, die einige Schritte weiter auf dem Boden lag. Es war ein Katholik. Ohne das Gesicht des Toten anzusehen, löste sie den weißen Streifen.
    »Gib mir deinen Arm!«
    »Nein!«, sagte er. Hass glomm in seinen Augen auf, als er die Binde sah, doch sie band ihm trotzdem damit seine Wunde ab. »Es ist unsere einzige Chance!«
    Sie sollte recht behalten. Obwohl sie sich durch schmale Straßen und Gassen schlugen, begegneten ihnen immer wieder Gar den und Männer der Bürgermiliz, die sie jedoch unbehelligt durch ließen. Trotzdem zitterte Madeleine vor Angst.
    Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie schließlich das Haus des englischen Botschafters erreichten. Es stand tatsächlich unter königlichem Schutz und war verbarrikadiert, doch nachdem man sie erkannt hatte, ließ man sie eilig ein. Die Tür schloss sich hinter ihnen – sie waren in Sicherheit!

143
    F ast zwei Wochen mussten sie in Walsinghams Haus ausharren.
    Madeleine erfuhr von Nicolas, was in jener Nacht, nachdem sie sich im Louvre getrennt hatten, geschehen war. Er sei tatsächlich bis zu Colignys Palais durchgekommen, erzählte er. Doch es sei bereits zu spät gewesen. »Die Guise hatten bereits überall ihre Männer aufgestellt. Der Admiral bat mich, seine Tochter und die anderen in Sicherheit zu bringen. Er selbst fühlte sich zu schwach. Er sei mit Gott im Reinen, sagte er …« Nicolas’ Stimme klang brüchig. »Wir sind übers Dach geflohen«, fuhr er fort. »Tenley haben sie mit einem Schuss erwischt, doch die anderen haben es geschafft. Ich selbst habe ein Pferd gestohlen, um dich zu suchen. Aber ich wusste nicht, wo …« Die Verzweiflung war ihm noch immer anzuhören. »Doch dann habe ich mich an die Beschrei bungen in deinem Traum erinnert, an die Straße vor Notre-Dame, die du entlanggelaufen bist …«
    »Ich dachte, du wärst tot!«, erwiderte sie leise. Schaudernd erinnerte sie sich, was man Coligny angetan hatte. Sie blickte ihn voller Trauer an. »Ich habe es nicht verhindern können. Ich habe sie alle nicht retten können, Nicolas!«
    Er strich ihr übers Haar. »Das stimmt nicht«, sagte er dann voller Ernst. »Viele würden nicht mehr leben, wenn du sie nicht gewarnt hättest. Die Frau mit dem Kind, die du auf der Straße gesehen hast, Colignys Tochter Louise, die anderen, die mit ihr übers Dach geflohen sind, Henri de Navarre und auch ich nicht … Doch auch du kannst das Schicksal dieser Welt nicht aufhalten!«
    Sie schwieg und wusste tief in ihrem Inneren, dass er recht hatte, auch wenn das Schreckliche dadurch nicht in seinem Schmerz und Grauen zu lindern war.
    Die Neuigkeiten, die sie von draußen hörten, waren weiterhin furchterregend. Über Tage schien die Lage in Paris völlig außer Kontrolle geraten zu sein. Das Töten wollte nicht aufhören – selbst als der König es offiziell befahl. Sechs Tage brauchte es, bis die Stadt wieder halbwegs zur Ordnung zurückfand, doch die Gewalt hatte sich längst

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