Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
wie ein Flächenbrand im ganzen Land ausgebreitet. Tausende waren ermordet worden und wurden es noch. Alle Wut, aller Hass und die Furcht vor Gott schienen sich mit einem Mal in einem einzigen blutigen Sturm über Frankreich zu ergehen.
»Ich werde Euch helfen zu fliehen. Geht nach England an den Hof meiner Königin. Dort wird man Euch mit Güte und Wärme aufzunehmen wissen, nach dem, was Euch widerfahren ist«, sagte Walsingham, der zutiefst schockiert über die Ereignisse war.
Die Flucht wurde sorgfältig geplant. Auf einem Fuhrwagen, versteckt zwischen Fässern, schmuggelte man sie aus der Stadt und weiter über einsame Landwege in Richtung der Küste. Über Tage kauerten sie unter der Plane, voller Angst bei jedem Halt und jeder menschlichen Stimme, die sich ihnen näherte, man könnte sie doch noch entdecken. Nach fast sieben Tagen erreichten sie schließlich Calais. Ein englischer Kapitän, der von Walsingham instruiert worden war, nahm sie wortlos an Bord.
Als das Schiff ablegte, drehte Madeleine sich nicht mehr um. Sie ging nach vorn zum Bug und ließ die Augen über die unendliche Weite des Meeres und den freien Himmel in Richtung der englischen Küste schweifen. Der schwankende Boden ließ sie ein leichtes Unwohlsein spüren. Es war nicht das erste Mal. Schon seit einigen Tagen spürte sie es – wie ein Hoffnungsschimmer in all der Dunkelheit.
Nicolas, der hinter sie getreten war, legte die Arme um sie. »Ich liebe dich«, sagte er leise, und sie lehnte den Kopf an ihn. Vor der aufsprühenden Gischt des Meeres blitzte ein Bild vor ihren Augen auf. Es war das Gesicht eines kleinen Mädchens. Madeleines Hand griff nach der Kette um ihren Hals. Sie würde sie Ava nennen.
Nachwort
I n der Bartholomäusnacht und den anschließenden Tagen wurden in Paris drei- bis viertausend Menschen umgebracht. Weitere sechsttausend, so schätzt man heute, fanden in den übrigen Städten der Provinz den Tod. 1
Das Massaker löste damals im Ausland die unterschiedlichs ten Reaktionen aus. Während man in England, den Niederlanden und den protestantischen Fürstenstaaten des Heiligen Römischen Reichs entsetzt über die grausamen Ereignisse war, ließen Papst Gregor XIII. und der spanische König Philipp II. vor Freude und Dankbarkeit in Rom und Madrid Messen zelebrieren und den Lobgesang des Te Deum anstimmen.
Gregor XIII. – bei dem sich zu dieser Zeit übrigens auch der Kardinal de Lorraine aufhielt – entlohnte den Boten, der die Nachricht überbrachte, nicht nur fürstlich, sondern ließ zum Gedenken an die Bartholomäusnacht sogar eine eigene Münze prägen, die auf der einen Seite den Kopf des Papstes und auf der anderen einen Engel mit Kreuz und Schwert zeigte, der die Hugenotten bezwingt.
Für die Protestanten waren die Folgen dieser blutigen Nacht, mit der gleichzeitig der vierte Religionskrieg begann, verheerend. Sie verloren den größten Teil ihrer Führer, und viele schworen in den Wochen und Monaten danach aus Angst ihrem Glauben ab. Dennoch gelang den Katholiken kein vollständiger Sieg über sie. 2
Bis zum heutigen Tag ist nicht geklärt, wie und durch wen die Ereignisse des 24. August 1572 wirklich ausgelöst wurden. Als ich anfing, mich bei meinen Recherchen mit dem Attentat auf Coligny und der darauffolgenden Bartholomäusnacht zu beschäftigen, war ich überrascht, wie viel über die genauen Begebenheiten der damaligen Geschehnisse im Unklaren liegt und wie unterschiedlich die einzelnen Vermutungen und Theorien sind, wer für diese blutigen Ereignisse maßgeblich die Verantwortung trug.
Die gängige Annahme vieler Historiker ist die, dass Catherine de Medici – allein oder auch im Verbund mit den Guise – das Attentat auf Coligny ausführen ließ. Angeblich befürchtete sie, dass der Einfluss des Admirals auf Charles IX. zu groß werden könnte und ihre eigene Macht dadurch nicht nur geschmälert würde, sondern Coligny den jungen König auch zu einem Kriegseinsatz Frankreichs in den spanischen Niederlanden überreden könnte. Wie auch im Roman thematisiert, wollte Catherine de Medici ein solches Unterfangen auf jeden Fall verhindern, da das verschuldete Frankreich einen eventuellen Gegenangriff von Spanien nicht hätte abwehren können. Nach dieser Theorie wird weiter davon ausgegangen, dass die Königinmutter, nachdem das Attentat auf den Admiral fehlgeschlagen war, Angst vor der Re aktion der Protestanten gehabt hätte und den König schließlich von einem angeblichen Komplott der
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