Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Hufschlag zu hören war. Sie sah, dass Bauern und Knechte ihre Arbeit auf den Feldern stehen ließen und zur Straße rannten, die unten am Fluss entlangführte. Außer Atem blieb Madeleines schmale Gestalt zwischen den anderen Menschen am Ufer stehen. Ein ge spannter Ausdruck zeigte sich in ihren blaugrauen Augen. Würden die Gerüchte stimmen? Seit Wochen hieß es, dass der junge König Charles IX. und seine Mutter, die mächtige Catherine de Medici, auf ihrem Weg von Troyes nach Bar-le-Duc hier vorbei kommen würden. Im letzten Jahr war der dreizehnjährige Charles für volljährig erklärt worden, und nach dem Friedensschluss zwischen Hugenotten und Katholiken sollte der König nun sein Land und Volk kennenlernen. Eine fast zweijährige Reise durch Frankreich sei geplant, so erzählte man sich.
Gebannt starrte Madeleine zu den Hügelkämmen, zwischen denen in diesem Moment die ersten Umrisse des Trosses sichtbar wurden. Banner flatterten im Wind, und die Sonne spiegelte sich blendend in dem Gold und Stahl von Lanzen und Schilden. Es mussten Hunderte von Reitern sein. Nein, mehr, schoss es Madeleine durch den Kopf. Sie erinnerte sich, was Monsieur Legrand, der alte Apotheker, dem ihre Mutter den Haushalt führte, erzählt hatte. Angeblich reisten Tausende mit dem König und der Medici quer durchs ganze Land – der gesamte Hofstaat und Hochadel, die Ratsmitglieder, Botschafter, Soldaten und Priester und mit ihnen ihr Gesinde. Einen leichten Vorgeschmack auf die Größe dieser Reisegesellschaft hatte sie hier in der Gegend bereits vor zwei Tagen bekommen, als sich eine nicht enden wollende Karawane von Reitern und Fuhrwagen ihren Weg am Fluss entlangkämpfte. Es hatte sich jedoch nur um eine Vorhut von Handwerkern und Hofangestellten gehandelt, die mit dem königlichen Gepäck und Mobiliar vorreisten, um die Unterkünfte für den Herrscher und seine Familie vorzubereiten. So beeindruckend ihr Anblick gewesen war, er war in nichts mit dem vergleichbar, was Madeleine nun sah. Einem Gemälde gleich schien ihr das Bild vor ihr, und die Sechzehnjährige sog begierig jede Einzelheit davon auf. Allein die Farben! Niemals zuvor hatte sie Stoffe von solch leuchtendem Gelb und Rot gesehen, wie sie die Wämser und gebauschten Hosen der Bogenschützen und Garden zeigten. Sie ritten dem Zug voran, dem ein Heer von Menschen folgte: Männer mit federgeschmückten Hüten; Frauen, die juwelenbestickte Kleider trugen; Geistliche in schweren Umhängen und unzählige Diener und Pagen zu Fuß – begleitet von den jubelnden Rufen der Schaulustigen.
»Madeleine, Madeleine!«, hörte sie in diesem Augenblick hinter sich eine Stimme rufen. Die Gestalt eines sommersprossigen, strohblonden Mädchens drängte sich zwischen den Leuten zu ihr durch. Es war Agnès, die Tochter des Schmieds. »Mein Gott, ist das nicht aufregend!«, stieß sie mit hochroten Wangen hervor, als sie Madeleine begrüßte.
Die beiden Mädchen waren seit letztem Sommer befreundet. Madeleine mochte Agnès, die sie von Anfang an nie hatte spüren lassen, dass sie nicht von hier stammte. Das war nicht bei allen Menschen der Fall. Obwohl sie mit ihrer Mutter nun schon viele Jahre in Éclaron lebte, haftete ihnen immer noch der Ruf der Fremden aus Deutschland an, und die Tatsache, dass Madeleine ohne Vater aufwuchs, hatte diese Vorurteile nicht unbedingt weniger werden lassen.
Ungläubig fasste sie Agnès am Arm und lachte sie an. »Ja, es ist wirklich der Zug des Königs!«, sagte sie mit leuchtenden Augen, denn sie konnte es noch immer kaum fassen, dass sie Zeuge dieses Schauspiels werden durfte.
Agnès deutete mit der Hand zum Flussufer. »Los, komm! Lass uns auf die Kaimauer steigen, dort kann man besser sehen«, sagte sie und zog sie mit sich.
Madeleine nickte und drängte sich mit Agnès zwischen den jubelnden Leuten bis zu der Mauer durch, auf die sie hinaufkletterten.
Die Mühe hatte sich gelohnt, und einen Moment lang verschlug es den beiden Mädchen den Atem.
»Oh, sieh nur!« Madeleine deutete auf die mit Gold verzierten Sänften, die man ein Stück weiter hinten erkennen konnte und von denen ihr eine prunkvoller als die andere erschien. Niemals zuvor hatte sie so etwas gesehen. Und nicht nur Menschen reisten mit dem Zug, sondern auch eine Vielzahl von Tieren – Pferde, Maulesel, Hunde und Ziegen wurden mitgeführt und sogar ein Bär und Leopard, wie sie ungläubig feststellte. Noch immer konnte man am Horizont kein Ende des Zugs ausmachen, der so groß
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