Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Prolog
D ie Kapelle, die sie als Treffpunkt ausgesucht hatten, lag einige Meilen entfernt von Valladolid. Man musste ein Stück durch ein ausgedörrtes Wäldchen reiten, bevor man die schlichten, sandstein farbenen Mauern, die vor mehreren Jahrhunderten hier errichtet worden waren, im Licht der untergehenden Sonne erblickte.
Er konnte schon von Weitem ihre Pferde sehen, die sie an den Bäumen festgemacht hatten – sie warteten also bereits auf ihn. Mit einem tiefen Atemzug sog er die warme kastilische Abendluft ein. Obwohl er seine Entscheidung in keinem Moment bereute, verspürte er einen Anflug von Melancholie. Wer wusste schon, wann und ob er überhaupt jemals wieder nach Spanien zurückkehren würde.
Er zügelte das Tempo und stieg von seinem Pferd, um die letzten Schritte zur Kapelle zu Fuß zu gehen. Als er die schwere Tür aufzog und die Schwelle überschritt, wurde ihm bewusst, dass er in diesem Augenblick sein altes Leben und alles, was er bisher gewesen war, hinter sich ließ.
Der Herzog stand neben dem Altar, den Blick nachdenklich auf ein Gemälde der Jungfrau Maria und einer Heerschar von Engeln gerichtet. Er hatte ihm den Rücken zugewandt, und er war allein. Als er seine Schritte hörte, drehte er sich um.
»Señor Gomez!«, sagte der Herzog.
Er neigte höflich den Kopf. Alles, was es zu sagen gab, hatten sie längst besprochen. Er sah zu der Kleidung, die auf einer Holzbank bereitlag. »Das ist für mich bestimmt?«
»Ja, leider muss ich Euch bitten, sie anzuziehen!«
Er nickte. Es war die Kleidung eines französischen Landadligen, etwas zerschlissen und verschmutzt, so wie Hosen, Hemd und Wams nach mehreren Wochen Gefängnis aussehen würden. Er unterdrückte seinen Widerwillen, als er die Sachen überzog. Von nun an würde er Franzose sein. Dann sah er die eisernen Handschellen.
»Wir werden sie Euch erst kurz vorher anlegen. Die Gefangenen tragen sie alle!«, erklärte der Herzog.
»Natürlich.« Er zog seinen Ring vom Finger – das Letzte, was ihn noch mit seinem alten Leben verband.
Ihre Blicke trafen sich.
»Seine Majestät lässt Euch noch einmal seine tiefe Dankbarkeit versichern«, sagte der Herzog.
»Es ist mir eine Ehre, dass ich nicht nur meinem Land und König, sondern auch meinem Glauben auf diese Weise dienen kann!«
Der Herzog nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. »Die Auslieferung der französischen Gefangenen wird nächsten Sonntag stattfinden. Euer Mittelsmann wird sich mit Euch in Verbindung setzen, sobald Ihr Frankreich erreicht habt. Er wird Euch nach Orléans bringen.«
Orléans! Die Hochburg der Hugenotten. In den letzten Wochen und Monaten hatte er alles über sie gelernt, was man nur wissen konnte. Aber würde es ihm auch wirklich gelingen, in ihren Führungskreis vorzudringen?
»Habt Ihr Euch entschieden, welchen Namen Ihr zu Eurer Tarnung verwendet?«, fragte der Herzog.
»Ja, ›San Lorenzo‹!«, erwiderte er. Am Gedenktag des Heiligen hatte Spanien die Schlacht von St. Quentin gegen Frankreich gewonnen. An diesem Tag waren aber auch sein Bruder und sein Vater gefallen. Mit keinem anderen Namen als diesem hätte sich sein persönliches Schicksal besser mit dem Spaniens verbinden können.
Der Herzog neigte den Kopf. »So sei es! … Niemand außer Seiner Majestät und meiner Person wird Eure wahre Identität erfahren, das versichere ich Euch. Zu Eurem eigenen Schutz. Bis die Zeit gekommen ist, werden wir Euch so wenig wie möglich behelligen …«
Er nickte, er wusste, dass er ganz auf sich gestellt war und es vielleicht Monate, wenn nicht Jahre dauern konnte, bis sie seine Dienste wirklich in Anspruch nehmen würden.
»Gott stehe Euch bei Euren schweren Aufgaben bei, San Lorenzo!«, schloss der Herzog.
Teil I
Die Gabe
Frankreich, 1564,
vier Jahre später …
1
M an konnte ihre Pferde schon von Weitem hören – wie ein Donnergrollen, das langsam näher kam. Madeleine blieb unwillkürlich am Wegesrand stehen und hielt ihre kastanienbraunen Haare fest, die ihr der Wind ins Gesicht wehte. Konnte das sein? Eine plötzliche Aufregung ergriff sie. Das junge Mädchen fasste seinen Korb am Arm fester und hatte im selben Moment vergessen, dass seine Mutter ihm aufgetragen hatte, mit den Besorgun gen, die es im Nachbarort beim Krämer Boudin gemacht hatte, auf dem schnellsten Weg wieder nach Hause zu kommen. Stattdes sen raffte Madeleine ihren Rock, drehte sich um und lief zurück, in die Richtung, aus der der immer lauter werdende
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